René Spitz ist
vor allem berühmt für seine Untersuchungen an Kindern in Säuglingsheimen, die
er Mitte der 30er Jahren in Wien begann. Er konnte feststellen, dass kleine
Kinder nicht überleben konnten, wenn sie menschliche Interaktion und
menschliche Berührung entbehren mussten, trotz guter Ernährung, sicherer
Unterbringung, guter hygienischer und medizinischer Versorgung,. Er konnte
berichten, dass Kinder, die in einem Waisenhaus unter der klinischen Fürsorge
von Kinderschwestern in 8-Stunden-Schichten betreut wurden, nicht wachsen
wollten und hinter der alterstypischen Entwicklung zurückblieben. Mehr als ein
Drittel dieser Kinder starb. Die meisten von ihnen waren körperlich, geistig
und sozial zurückgeblieben. Eine Behinderung, die für viele von ihnen lebenslang
bestehen blieb.
Aber nicht nur
die Ergebnisse dieser Untersuchungen waren bahnbrechend. Spitz wandte auch als
erster vielfältige Verfahren der Dokumentation der Mutter-Kind-Interaktion an
wie systematische Beobachtung, Foto- und Filmaufnahmen. Er kann als Pionier der
empirischen Erforschung der Mutter-Kind-Interaktion angesehen werden
Die vorliegende
Arbeit von Spitz, die er 1958 als Vorlesung in den „Freud Anniversary Lecture
Series“ des New York Psychoanalytic
Institute gehalten hat, stellt eine Zusammenfassung und theoretische Verdichtung
seiner bisherigen Arbeiten dar. Sein Ziel ist eine allgemeine theoretische
Konzeption der Entwicklung des Kleinkindes, die gelungene und misslungene
Entwicklung gleichermaßen erklärt – und die damit sowohl der theoretischen
Notwendigkeit der Erklärung wie der praktischen Notwendigkeit von Prävention
und Therapie genügt. Dabei ist dieser theoretische Entwurf deshalb hier
besonders einschlägig, weil das Thema der zwei
Linien der Entwicklung sich wie ein roter Faden durch das gesamte Vorhaben
zieht.
Wir haben bis
jetzt immer davon gesprochen, dass die Linien der biologischen und
psychologischen Entwicklung, die Linien von Natur und Kultur miteinander verschmelzen, dass sie sich in einander auflösen. Wobei diese Idee einer
Verschmelzung und Auflösung immer auch einen gewissen Erklärungsnotstand
hinterlassen hat. Um nur ein Beispiel zu nennen: das Entstehen von Neuem in der
Entwicklung bleibt bei der Verschmelzungsmetapher weitgehend unthemasiert – es
sei denn, man nehme die Verschmelzung selbst als das Neue, was aber
unbefriedigend bleibt[1].
Spitz versucht in
seinem theoretischen Entwurf eine genauere Fassung der paradoxen Interaktion
der zwei Linien und der Entstehung des Neuen in der Entwicklung vorzulegen. Er
benutzt für dieses Vorhaben eine Analogie aus der Embryologie. Diese Analogie ist die Teilung der
befruchteten Eizelle (Zygote). Spitz bezieht sich in seiner Analogie auf die
Forschungen von Spemann, Waddington und Needham zur Epigenese.
Spemann (1936)
hatte in seinen experimentellen embryologischen Untersuchgen festgestellt, dass
in einer befruchteten Eizelle sich zwei Bereiche des Plasmas nach ihrer Dichte
unterscheiden lassen: einen hellen und einen dunklen Bereich (siehe Abbildung).
Beide Bereiche werden von einer dünnen Membran auseinander gehalten, dem
„grauer Halbmond.“ Spemann wies nach, dass dieser graue Halbmond entscheidend
am Ablauf der Zellteilung und ihrem Fortgang beteiligt, der zunächst zu einer
Einstülpung und dann zu dem führt, was der „Urmund“ einer Zelle genannt wird,
der Öffnung für Nahrungsaufnahme und –ausscheidung. Er nannte ihn deshalb den Organisator, der auch als Spemann-Mangold-Organisator
bekannt ist
Es ist
interessant zu sehen, dass der Organisator ja kein im eigentlichen Sinne
physiologischer oder chemischer Begriff ist. Dazu bemerkt Spemann:
Immer wieder sind Ausdrücke gebraucht worden, welche keine physikalischen, sondern psychologische Analogien bezeichnen. Daß dies geschah, soll mehr bedeuten als ein poetisches Bild. Es soll damit gesagt werden, daß die ortsgemäße Reaktion eines mit den verschiedensten Potenzen begabten Keimstücks in einem embryonalen ‚Feld‘, sein Verhalten in einer bestimmten ‚Situation‘, keine gewöhnlichen einfachen oder komplizierten chemischen Reaktionen sind. Es soll heißen, dass diese Prozesse, wie alle vitalen Vorgänge, … mit nichts so viel Ähnlichkeit haben, wie mit jenen vitalen Vorgängen, von welchen wir die intimste Kenntnis haben, den psychischen. (Spemann, 1936, S. 278).
Während sich also
Spitz in seinem psychologischen Bemühen um eine Theorie der Entwicklung auf
eine Analogie zur Embryologie Spemanns bezieht, bezieht sich dieser auf eine
psychologische Analogie. Das kann letzten Endes nur dazu führen, dass man sich
darin einig ist, dass es sich um irgendeine „Kraft“, ein „Feld“ oder ein
„energetisches System“ handelt. Während also Spitz durch den Rekurs auf die
Analogie zur Embryologie so etwas wie einen „Realitätsbezug“ seiner Theorie und
ihrer Dignität absichern will, lässt Spemann erkennen, dass eine ausschließlich
naturwissenschaftliche Analyse nicht vollständig sein kann.
Spitz benutzt
jedenfalls das Konzept des Organisators um deutlich zu machen, dass sich in der
Entwicklung des Kindes drei wesentliche Neuorganisationen aufweisen lassen, die
beschreiben sollen, wie sich das Verhältnis von Reifung und Entwicklung
grundsätzlich verändert und Neues in der Entwicklung entsteht.
Dieses Entstehen
von Neuem in der Entwicklung macht er an drei paradigmatischen Beispielen
deutlich: dem ersten Lächeln, der Achtmonatsangst und der Nein-Geste.
Die drei (bzw. vier) Stufen der Entwicklung bei Spitz (1972) |
Man muss sich an dieser Stelle noch einmal klar machen, dass der Begriff der Objektbeziehung hier nicht annähernd so etwas meint, was Piaget oder die kulturhistorische Schule darunter verstanden haben. Vielmehr muss man sich zu Objekt immer ergänzend „Objekt libidinöser Beziehungen“ dazu denken, worunter naturgemäß auch die Mutter-Kind-Interaktionen subsumiert werden können – jedenfalls unter einer psychoanalytischen Perspektive. In gewisser Hinsicht lässt sich so formulieren, dass die Affekte für Spitz die zentrale organisierende Funktion in der Entwicklung innehaben:
Um terminologische Konfusion zu vermeiden, möchte ich wiederholen, daß der Organisator ein theoretisches Konstrukt ist. Er bezeichnet einen Zustand der Koordination und Integration einer Reihe somatischer und psychischer Funktionen. Diese Integration führt zu einer neuen Stufe der Organisation, welche die Eigenschaften der Elemente, aus denen sie entstammen, verändert. Von den Embryologen wird dieser Zustand exakt ausgedrückt, wenn sie sagen, daß die neue Organisationsstufe sich nicht durch die Eigenschaften ihrer elementaren Einheiten erklären läßt; daß die Kohärenz der höheren Stufe vielmehr von den Eigenschaften abhängt, die die einzelnen Elemente zwar besaßen, die sie aber nicht entfalten konnten, bevor sie in eine bestimmte Beziehung zueinander getreten waren ... Indes, der Weg, der zu dieser Integration isolierter Funktionen führt, wird von den Objektbeziehungen des Kindes gebahnt, von Erfahrungen affektiver Natur. Daher ist der Indikator des Organisators der Psyche affektiver Natur; er ist ein affektives Verhalten, das der Entwicklung in allen anderen Bereichen der Persönlichkeit deutlich um einige Monate vorausgeht (Spitz, 1972, S. 82).
Diese
Schrittmacherfunktion des Affekts hat Needham für den Organisator auf eine Art
und Weise formuliert, die entfernt an die „Zone der nächsten Entwicklung“ von
Vygotskij erinnert:
Ein Organisator ist also ein Schrittmacher für eine bestimmte Entwicklungsachse ..., der vermittels quantitativer Unterschiede, die an dieser Achse entlang in meßbaren Abständen variieren, wirksam wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er für das Phänomen verantwortlich, das von experimentellen Biologen unter dem Namen Wirkungsfeld, Organisationsfeld oder Determinierungsfeld beschrieben wird (Needham 1931, S. 1627; zit. nach Spitz 1972).
Es ist
erstaunlich, dass Spitz, obwohl er so viel zur Erforschung der
Mutter-Kind-Interaktion beigetragen hat, dieses interaktive Sozialverhalten,
seine Genese, Rolle und Entwicklung in keiner Weise zum Gegenstand und Thema
seiner theoretischen Bemühungen macht. Man muss selbst die Stellen suchen, an
denen er seine eigenen Forschungsergebnisse zitiert, die auf die interaktive
Grundlage des Hospitalismus aufmerksam gemacht habe. Aber theoretisch löst er
diese Bedeutung nicht ein. Das mag zum einen daran liegen, dass die Analogie
zur Embryologie zu stark ist und er sich, auch wenn er immer wieder betont, dass
es „bloß eine Analogie“ sein, und Analogien seien ja legitim in der
Wissenschaft, nicht von Faszination dieser Analogie lösen. Dies mag zum einen
daran liegen, dass er versucht, seine Konzeption der Entwicklung in das
undiskutierte Schema der Psychoanalyse einzupassen, das er quasi als gegeben
voraussetzt: die Entwicklung von Es – Ich – Überich und die Phasenlehre von
oraler, analer und phallischer Phase. Das Faszinosum der embryonalen Analogie mit
ihrer Betonung auf dem Organisator als Kraftfeld mag darüberhinaus in eher
impliziten Ähnlichkeiten seinen Ursprung haben: 1.) in der Ähnlichkeit der
Dreifachstruktur von Organisator und den beiden Bereichen unterschiedlicher
Sättigung in der Eizelle mit der Struktur von Es – Ich – Überich; 2.) in der
Parallelität zu Freuds „Entwurf einer Psychologie“ von 1895 in der Freud
versuchte, ein energetisches Modell der Psyche zu entwickeln, das er dann
aufgeben musste, dessen Wirkungen im Konzept der „Spannung“ und des
energetischen „Triebes“ aber unverkennbar sind.
Am Ende dieser
Darstellung ist darüber hinaus anzumerken, dass zwei kritische Punkte einer Theorie
der kindlichen Entwicklung geklärt und ausgearbeitet werden müssen:
- die Entstehung von Neuem und das
Teil-Ganzes-Problem
- die Notwendigkeit
interdisziplinärer Beziehungen, die über Analogien hinausgehen
Literatur
Davydov,
V. V. und Zinchenko, V. P. (1982). Das Entwicklungsprinzip in der Psychologie. Gesellschaftswissenschaft, Nr. 2,
128-145.
Spemann,
H. (1936). Experimentelle Beiträge zu
einer Theorie der Entwicklung. Berlin: Springer.
Needham,
J. (1931). Chemical embryology. Vol. III.
London. Macmillan.
Spitz,
R. A. (1945). An inquiry into the genesis of psychiatric conditions in early
childhood. Psychoanalytic Study of the
Child, 1, 53-74.
Spitz,
R. A. (1946). Hospitalism: A follow-up report on
investigation described in Vol.1, 1945. Psychoanalytic
Study of the Child, 2, 113-117.
Spitz,
R. A. (1972). Eine genetische Feldtheorie
der Ichbildung. Frankfurt/M.: S. Fischer.
[1] An dieser Stelle sollte unbedingt noch einmal Bezug
genommen werden zu dem famosen Aufsatz von Davydov & Zinchenko (1982)