Donnerstag, 5. März 2015

René A. Spitz, „Eine genetische Feldtheorie der Ichbildung“ (1958)


René Spitz ist vor allem berühmt für seine Untersuchungen an Kindern in Säuglingsheimen, die er Mitte der 30er Jahren in Wien begann. Er konnte feststellen, dass kleine Kinder nicht überleben konnten, wenn sie menschliche Interaktion und menschliche Berührung entbehren mussten, trotz guter Ernährung, sicherer Unterbringung, guter hygienischer und medizinischer Versorgung,. Er konnte berichten, dass Kinder, die in einem Waisenhaus unter der klinischen Fürsorge von Kinderschwestern in 8-Stunden-Schichten betreut wurden, nicht wachsen wollten und hinter der alterstypischen Entwicklung zurückblieben. Mehr als ein Drittel dieser Kinder starb. Die meisten von ihnen waren körperlich, geistig und sozial zurückgeblieben. Eine Behinderung, die für viele von ihnen lebenslang bestehen blieb.

Aber nicht nur die Ergebnisse dieser Untersuchungen waren bahnbrechend. Spitz wandte auch als erster vielfältige Verfahren der Dokumentation der Mutter-Kind-Interaktion an wie systematische Beobachtung, Foto- und Filmaufnahmen. Er kann als Pionier der empirischen Erforschung der Mutter-Kind-Interaktion angesehen werden

Die vorliegende Arbeit von Spitz, die er 1958 als Vorlesung in den „Freud Anniversary Lecture Series“ des New York Psychoanalytic Institute gehalten hat, stellt eine Zusammenfassung und theoretische Verdichtung seiner bisherigen Arbeiten dar. Sein Ziel ist eine allgemeine theoretische Konzeption der Entwicklung des Kleinkindes, die gelungene und misslungene Entwicklung gleichermaßen erklärt – und die damit sowohl der theoretischen Notwendigkeit der Erklärung wie der praktischen Notwendigkeit von Prävention und Therapie genügt. Dabei ist dieser theoretische Entwurf deshalb hier besonders einschlägig, weil das Thema der zwei Linien der Entwicklung sich wie ein roter Faden durch das gesamte Vorhaben zieht.

Wir haben bis jetzt immer davon gesprochen, dass die Linien der biologischen und psychologischen Entwicklung, die Linien von Natur und Kultur miteinander verschmelzen, dass sie sich in einander auflösen. Wobei diese Idee einer Verschmelzung und Auflösung immer auch einen gewissen Erklärungsnotstand hinterlassen hat. Um nur ein Beispiel zu nennen: das Entstehen von Neuem in der Entwicklung bleibt bei der Verschmelzungsmetapher weitgehend unthemasiert – es sei denn, man nehme die Verschmelzung selbst als das Neue, was aber unbefriedigend bleibt[1].

Spitz versucht in seinem theoretischen Entwurf eine genauere Fassung der paradoxen Interaktion der zwei Linien und der Entstehung des Neuen in der Entwicklung vorzulegen. Er benutzt für dieses Vorhaben eine Analogie aus der Embryologie.  Diese Analogie ist die Teilung der befruchteten Eizelle (Zygote). Spitz bezieht sich in seiner Analogie auf die Forschungen von Spemann, Waddington und Needham zur Epigenese.

Spemann (1936) hatte in seinen experimentellen embryologischen Untersuchgen festgestellt, dass in einer befruchteten Eizelle sich zwei Bereiche des Plasmas nach ihrer Dichte unterscheiden lassen: einen hellen und einen dunklen Bereich (siehe Abbildung). Beide Bereiche werden von einer dünnen Membran auseinander gehalten, dem „grauer Halbmond.“ Spemann wies nach, dass dieser graue Halbmond entscheidend am Ablauf der Zellteilung und ihrem Fortgang beteiligt, der zunächst zu einer Einstülpung und dann zu dem führt, was der „Urmund“ einer Zelle genannt wird, der Öffnung für Nahrungsaufnahme und –ausscheidung. Er nannte ihn deshalb den Organisator, der auch als Spemann-Mangold-Organisator bekannt ist

 
Darstellung einer befruchteten Eizelle (Zygote)

Es ist interessant zu sehen, dass der Organisator ja kein im eigentlichen Sinne physiologischer oder chemischer Begriff ist. Dazu bemerkt Spemann:

Immer wieder sind Ausdrücke gebraucht worden, welche keine physikalischen, sondern psychologische Analogien bezeichnen. Daß dies geschah, soll mehr bedeuten als ein poetisches Bild. Es soll damit gesagt werden, daß die ortsgemäße Reaktion eines mit den verschiedensten Potenzen begabten Keimstücks in einem embryonalen ‚Feld‘, sein Verhalten in einer bestimmten ‚Situation‘, keine gewöhnlichen einfachen oder komplizierten chemischen Reaktionen sind. Es soll heißen, dass diese Prozesse, wie alle vitalen Vorgänge, … mit nichts so viel Ähnlichkeit haben, wie mit jenen vitalen Vorgängen, von welchen wir die intimste Kenntnis haben, den psychischen. (Spemann, 1936, S. 278).

Während sich also Spitz in seinem psychologischen Bemühen um eine Theorie der Entwicklung auf eine Analogie zur Embryologie Spemanns bezieht, bezieht sich dieser auf eine psychologische Analogie. Das kann letzten Endes nur dazu führen, dass man sich darin einig ist, dass es sich um irgendeine „Kraft“, ein „Feld“ oder ein „energetisches System“ handelt. Während also Spitz durch den Rekurs auf die Analogie zur Embryologie so etwas wie einen „Realitätsbezug“ seiner Theorie und ihrer Dignität absichern will, lässt Spemann erkennen, dass eine ausschließlich naturwissenschaftliche Analyse nicht vollständig sein kann.

Spitz benutzt jedenfalls das Konzept des Organisators um deutlich zu machen, dass sich in der Entwicklung des Kindes drei wesentliche Neuorganisationen aufweisen lassen, die beschreiben sollen, wie sich das Verhältnis von Reifung und Entwicklung grundsätzlich verändert und Neues in der Entwicklung entsteht.

Dieses Entstehen von Neuem in der Entwicklung macht er an drei paradigmatischen Beispielen deutlich: dem ersten Lächeln, der Achtmonatsangst und der Nein-Geste. 


Die drei (bzw. vier) Stufen der Entwicklung bei Spitz (1972)

Man muss sich an dieser Stelle noch einmal klar machen, dass der Begriff der Objektbeziehung hier nicht annähernd so etwas meint, was Piaget oder die kulturhistorische Schule darunter verstanden haben. Vielmehr muss man sich zu Objekt immer ergänzend „Objekt libidinöser Beziehungen“ dazu denken, worunter naturgemäß auch die Mutter-Kind-Interaktionen subsumiert werden können – jedenfalls unter einer psychoanalytischen Perspektive. In gewisser Hinsicht lässt sich so formulieren, dass die Affekte für Spitz die zentrale organisierende Funktion in der Entwicklung innehaben:
Um terminologische Konfusion zu vermeiden, möchte ich wiederholen, daß der Organisator ein theoretisches Konstrukt ist. Er bezeichnet einen Zustand der Koordination und Integration einer Reihe somatischer und psychischer Funktionen. Diese Integration führt zu einer neuen Stufe der Organisation, welche die Eigenschaften der Elemente, aus denen sie entstammen, verändert. Von den Embryologen wird dieser Zustand exakt ausgedrückt, wenn sie sagen, daß die neue Organisationsstufe sich nicht durch die Eigenschaften ihrer elementaren Einheiten erklären läßt; daß die Kohärenz der höheren Stufe vielmehr von den Eigenschaften abhängt, die die einzelnen Elemente zwar besaßen, die sie aber nicht entfalten konnten, bevor sie in eine bestimmte Beziehung zueinander getreten waren ... Indes, der Weg, der zu dieser Integration isolierter Funktionen führt, wird von den Objektbeziehungen des Kindes gebahnt, von Erfahrungen affektiver Natur. Daher ist der Indikator des Organisators der Psyche affektiver Natur; er ist ein affektives Verhalten, das der Entwicklung in allen anderen Bereichen der Persönlichkeit deutlich um einige Monate vorausgeht (Spitz, 1972, S. 82).

Diese Schrittmacherfunktion des Affekts hat Needham für den Organisator auf eine Art und Weise formuliert, die entfernt an die „Zone der nächsten Entwicklung“ von Vygotskij erinnert:

Ein Organisator ist also ein Schrittmacher für eine bestimmte Entwicklungsachse ..., der vermittels quantitativer Unterschiede, die an dieser Achse entlang in meßbaren Abständen variieren, wirksam wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er für das Phänomen verantwortlich, das von experimentellen Biologen unter dem Namen Wirkungsfeld, Organisationsfeld oder Determinierungsfeld beschrieben wird (Needham 1931, S. 1627; zit. nach Spitz 1972).

Es ist erstaunlich, dass Spitz, obwohl er so viel zur Erforschung der Mutter-Kind-Interaktion beigetragen hat, dieses interaktive Sozialverhalten, seine Genese, Rolle und Entwicklung in keiner Weise zum Gegenstand und Thema seiner theoretischen Bemühungen macht. Man muss selbst die Stellen suchen, an denen er seine eigenen Forschungsergebnisse zitiert, die auf die interaktive Grundlage des Hospitalismus aufmerksam gemacht habe. Aber theoretisch löst er diese Bedeutung nicht ein. Das mag zum einen daran liegen, dass die Analogie zur Embryologie zu stark ist und er sich, auch wenn er immer wieder betont, dass es „bloß eine Analogie“ sein, und Analogien seien ja legitim in der Wissenschaft, nicht von Faszination dieser Analogie lösen. Dies mag zum einen daran liegen, dass er versucht, seine Konzeption der Entwicklung in das undiskutierte Schema der Psychoanalyse einzupassen, das er quasi als gegeben voraussetzt: die Entwicklung von Es – Ich – Überich und die Phasenlehre von oraler, analer und phallischer Phase. Das Faszinosum der embryonalen Analogie mit ihrer Betonung auf dem Organisator als Kraftfeld mag darüberhinaus in eher impliziten Ähnlichkeiten seinen Ursprung haben: 1.) in der Ähnlichkeit der Dreifachstruktur von Organisator und den beiden Bereichen unterschiedlicher Sättigung in der Eizelle mit der Struktur von Es – Ich – Überich; 2.) in der Parallelität zu Freuds „Entwurf einer Psychologie“ von 1895 in der Freud versuchte, ein energetisches Modell der Psyche zu entwickeln, das er dann aufgeben musste, dessen Wirkungen im Konzept der „Spannung“ und des energetischen „Triebes“ aber unverkennbar sind.

Am Ende dieser Darstellung ist darüber hinaus anzumerken, dass zwei kritische Punkte einer Theorie der kindlichen Entwicklung geklärt und ausgearbeitet werden müssen:

-       die Entstehung von Neuem und das Teil-Ganzes-Problem

-       die Notwendigkeit interdisziplinärer Beziehungen, die über Analogien hinausgehen



Literatur

Davydov, V. V. und Zinchenko, V. P. (1982). Das Entwicklungsprinzip in der Psychologie. Gesellschaftswissenschaft, Nr. 2, 128-145.
Spemann, H. (1936). Experimentelle Beiträge zu einer Theorie der Entwicklung. Berlin: Springer.
Needham, J. (1931). Chemical embryology. Vol. III. London. Macmillan.
Spitz, R. A. (1945). An inquiry into the genesis of psychiatric conditions in early childhood. Psychoanalytic Study of the Child, 1, 53-74.
Spitz, R. A. (1946). Hospitalism:  A  follow-up  report on investigation described in Vol.1, 1945. Psychoanalytic  Study  of  the  Child,  2, 113-117.
Spitz, R. A. (1972). Eine genetische Feldtheorie der Ichbildung. Frankfurt/M.: S. Fischer.



[1] An dieser Stelle sollte unbedingt noch einmal Bezug genommen werden zu dem famosen Aufsatz von Davydov & Zinchenko (1982)