Samstag, 9. Mai 2015

Lev S. Vygotskij: Die Bedeutung der Umwelt für die Entwicklung des Kindes


(4. Kapitel aus Vygotskijs Lehrbuch der Pädologie, übersetzt von Peter Keiler,  mit Bezug zu einer Übersetzung aus dem Englischen von van der Veer & Valsiner 1994)


Vygotkij (V) geht es um die Beziehung zwischen Kind und Umwelt, wobei er sich explizit um den Begriff der Beziehung bemüht, den er von einer objektiven Entwicklungsbedingung unterscheidet. Die Umweltindikatoren sind seiner Ansicht nach nicht objektiv, sondern relativ, d.h. sie ändern sich einerseits ständig, andererseits ändern sie sich auch dann, wenn sie rein objektiv gesehen gleich bleiben, und zwar dadurch, dass sich das Kind selbst verändert, so dass gleiche Bedingungen andere Wirkungen erzeugen. Dabei geht er noch gar nicht auf die sich ständig ändernden sozialen und personalen Bedingungen ein, die das Ganze noch verstärken. Er zeigt das sehr schön am Beispiel der Sprache und des sprachlichen Entwicklungsstandes des Kindes, das eben je nach diesem Stand eine völlig andere Sprache hört und spricht. Vygotskij spricht deshalb von  - bzw. die Übersetzung spricht von   - „Umweltmomenten“. Laut Peter Keiler (persönliche Mitteilung  Mai 2015) entspricht die deutsche Übersetzung  mit dem Begriff „Umweltmomente“ dem russischen Original, während die amerikanische Übersetzung den Begriff „environmental factors“ benutzt:
    „Selbst wenn die Umwelt sich nur wenig verändert, führt allein schon die Tatsache, dass sich das Kind selbst im Entwicklungsprozess verändert, zu einer Situation, in welcher die Rolle und Bedeutung dieser Umweltmomente, die, objektiv betrachtet, augenscheinlich unverändert geblieben sind, de facto doch eine Veränderung durchmachen, und dieselben Umweltmomente, die während eines gegebenen Lebensalters eine bestimmte Bedeutung haben und eine gewisse Rolle spielen, beginnen zwei Jahre später eine andere Bedeutung zu haben und eine gewisse Rolle spielen, weil das Kind sich verändert hat; mit anderen Worten, die Beziehung des Kindes zu diesen spezifischen Umweltmomenten hat sich gewandelt.
        Die Fall-Geschichten von uns untersuchter Kinder versetzen uns in die Lage, in diesem Punkt noch exakter und präziser zu sein und zu sagen, dass die wesentlichen Momente, welche den Einfluss der Umwelt auf die psychische Entwicklung der Kinder und auf  die Entwicklung ihrer bewussten Persönlichkeit erklären, durch ihr Erleben konstituiert werden. Das Erleben, das aus irgendeiner Situation resultiert oder von irgendeinem Aspekt seiner Umwelt hervorgerufen wird, bestimmt, welche Art von Einfluss diese Situation oder diese Umwelt auf das Kind haben wird. Deshalb entscheidet kein Moment für sich genommen (d.h. außerhalb der Beziehung zum Kind betrachtet) darüber, wie die Umwelt den zukünftigen Verlauf der kindlichen Entwicklung beeinflusst, sondern jedes Moment, wie es durch das Prisma des Erlebens de Situation durch das Kind gebrochen wird. “ S.3)

In meiner Kopie hatte ich unter diesen Absatz folgende Skizze gesetzt:

Gegenwartsmoment (Stern)        vs.                     Umweltmoment (Vyg.)
            ê                    ê
 Introspektiv, affektiv                                 objektivierend,
beziehungsbezogen                                    beziehungsbezogen
                                                                                            
                                 î          ERLEBEN                  í      


Nach genauerer Lektüre des Stern-Buches kann die Bezeichnung „introspektiv“ nicht mehr unmittelbar verwendet werden, weil zwar das Frühstücksinterview mit Introspektion arbeitet, nicht jedoch die Konzeption des Gegenwartsmoments, denn deren interne Seite wird ja einerseits nur als Gewahrsein – d.h. als Erleben – beschrieben und andererseits im Rahmen intersubjektiver Beziehungen zwischen Bezugsperson und Kind.

Die Beziehung zwischen V. und Stern ist allerdings auf mehreren Ebenen vorhanden. V. schreibt z.B. , dass das Kind sich „ . . . eines Ereignisses gewahr wird, es interpretiert und sich emotional dazu verhält.“ (S. 6 oben). V. nimmt dazu die Metapher des Prismas, durch das Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung zum Erleben verschmolzen werden.
Dieses Erleben ist für V. eine ganzheitliche Einheit, und zwar diese kleinste Einheit, die - wie die Kategorie der Bedeutung in seinen anderen Texten -  noch die Komplexität des Ganzen beinhaltet.  „Das Erleben ist eine Einheit, in welcher einerseits als nicht herauslösbares Moment die Umwelt repräsentiert ist, das heißt, was erlebt wird – das Erleben bezieht sich stets auf etwas, das sich außerhalb des Menschen befindet. Und andererseits wird darin das Wie, die Art und Weise wie ich das, was außer mir existiert, auffasse, repräsentiert. . . . . So handelt es sich beim Erleben stets um eine untrennbare Einheit von personalen Charakteristika und situationalen Charakteristika, die darin repräsentiert sind.“ (S. 6 unten).
Das scheint mir jedenfalls sehr mit der Sternschen Kategorie des GMs zu korrespondieren, wobei sich bei V. die Umwelt eher als eine objektiv gegebene darstellt, einschließlich der darin agierenden Personen, und die emotionale Erlebnisdimension sich in den persönlichen Charakteristika wiederfindet. Der Begriff der konstitutionellen Befindlichkeit verweist auf die subjektive Dimension des Erlebens, die bei Stern mit der Selbst-Kategorie zum Ausdruck gebracht wird.
Ich finde V. hier durchaus differenzierter als Stern, weil er damit auf wichtige Aspekte wie z.B. Temperament, Reizbarkeit, Verarbeitungsgeschwindigkeit etc. verweist und im Begriff der „Haltung gegenüber einer Situation“ (S.7) bündelt. Diese konstitutionelle Dimension fehlt bei Stern. Der Begriff der Haltung taucht später nochmals als Begriff der „Einstellung“ auf: „Die Umwelt übt diesen Einfluss, wie wir gesehen haben, über das Erleben des Kindes aus, d.h. in Abhängigkeit von der inneren Einstellung, die das Kind gegenüber den verschiedenartigen Aspekten der ihm in der Umwelt begegnenden verschiedenen Situationen ausgebildet hat. Die Umwelt determiniert den Typ der Entwicklung in Abhängigkeit davon, welchen Grad der Bewusstheit über diese Umwelt das Kind erreicht hat.“ (12) Von daher würde ich bei V. mehr Ansatzpunkte für interindividuelle und soziokulturelle Variablen sehen. Sie werden allerdings nicht konsequent ins Entwicklungsmodell eingebaut (siehe unten), sondern nur genannt.

Mit der Einführung der Begriffe Sinn und Bedeutung konstruiert V. zudem eine andere Begriffshierarchie in Verbindung mit der Frage der Niveaus der Bewusstheit. Er ist hier einerseits differenzierter als Stern, weil er sich um Unterschiede in der (kognitiven wie emotionalen) Bedeutung von Situationen kümmert und damit im echten Sinn kulturhistorische Variabilität und Bewertungen zulässt. Andererseits ist unklar, inwieweit sein Sinnbegriff auch die nichtreflexive Dimension des bloßen emotionalen Gewahrwerdens beinhaltet. Demgegenüber kann Stern mit seinem auf das sog. nichtdynamische Unbewusste bezogenen Konzeption emotionale Erfahrungen oder Erleben des Kindes thematisieren, die keine reflexive, d.h. explizit verbalisierbare Komponente aufweisen. Das bleibt aber eigentlich nur eine ontogenetische Durchgangsstufe, die letztlich auf die verbale Reflektiertheit verweist. Nur in seinem Buch über die Entwicklungsstufen des Selbst spricht er von der zweischneidigen Rolle der sprachlichen Selbst, in der einerseits Bedeutungen ohne Erfahrungen und andererseits Erfahrungen ohne Bedeutungen involviert sind.
Allerdings kommt dieser Zustand bei V. auch vor, er erklärt ihn aber anders. Oder besser gesagt, er hat ein anderes normatives Modell der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, gekoppelt mit einem tendenziell linearen Entwicklungsverständnis (orientiert an seinem Begriffsentwicklungsmodell, Stichwort „Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten“). In jedem Fall kommt auch bei V. die Feststellung vor,  „...dass ein Kind sich seiner Situation nicht vollständig bewusst ist.“(9 unten) Die Gründe dafür liegen bei V. entweder in einem alters-, behinderungs- oder Trauma-bedingten Entwicklungsrückstand.
Vs Position ist in dem Sinne eher kognitionszentriert, obwohl er die emotionale Seite nicht ausschließt. Sein Maßstab ist in gewissem Sinn dualistisch: einerseits gibt die Gesellschaft Wertungen und „richtiges Verhalten“ vor – die objektive Seite, „ . . . das mit den Erwachsenen kompatible System der Kommunikation“ (11) – andererseits reagiert das Kind darauf entsprechend seinem Entwicklungsniveau, seiner Auffassungsgabe, Sinn- und Bedeutungserfassung und seiner Konstitution emotional – die sog. subjektive Seite, die dann entweder passt oder nicht passt (er nutzt hier klinische Beispiele, in denen das Erleben traumatisch war; der Begriff „subjektiv“ kommt allerdings nicht vor).

Im Schlussteil des Textes, in Verbindung mit der Kategorie der „Idealform“ wird der Unterschied im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gegenüber dem – weit weniger ausgearbeiteten oder offenen Modell von Stern – allerdings klar und deutlich:
„Das, was in der kindlichen Entwicklung am Ende und als Ergebnis des Entwicklungsprozesses erreicht werden kann, ist in der Umwelt von Anfang an schon vorhanden. Und es ist nicht nur einfach von Anbeginn in der Umwelt gegenwärtig, sondern es macht auch bereits auf den allerersten Stufen der kindlichen Entwicklung seinen Einfluss geltend.“(14)
V. verdeutlicht das sehr anschaulich am Beispiel der Sprachentwicklung und anhand eines historisch sehr brisanten Befundes: Kinder aus bürgerlichen Familien, die zu Hause erzogen werden, sind (auch schon damals) sprachlich weiter entwickelt als die Kindergartenkinder. Letztere haben denen gegenüber Vorsprung im Hinblick auf Unabhängigkeit, Disziplin, Selbständigkeit etc. (Die Ironie oder die Idiotie der Geschichte besteht ja darin, dass genau diese Gründe zum Pädologie-Dekret geführt haben, in dem man den Pädologen vorwarf, die kommunistische Erziehung durch bürgerliche Ideen zu unterwandern und Kinder des Bürgertums pädagogisch zu bevorteilen.)

Vs theoretsiches Modell lautet folgendermaßen: Die entwickelte Form der Sprache ist die Final- oder Idealform (ideal im Sinne eines Leitbildes). Diese Idealform, die erst am Ende der Kindheit sprachlich vorhanden ist, beeinflusst den Entwicklungsprozess aber von Anfang an. Das gilt nach V. für alle anderen Bereiche, z.B. den Zahlbegriff, das arithmetische Denken etc. Das gleiche Prinzip liegt m.E. auch der Entwicklung der Zeigegeste zugrunde: Es handelt sich um einen Determinationsprozess, der sich allerdings nur in einer von V. relativ unscharf skizzierten „quasi-pädagogischen“ Beziehung entfalten kann. Das Modell lässt sich deshalb nach V. weder auf die Evolution noch auf die gesellschaftlich-historische Entwicklung übertragen (Frage: warum gibt es den Kommunismus noch nicht? Antwort: Weil es den Kommunismus noch nicht gibt.)
Nur die kindliche Entwicklung verläuft nach diesem Muster, wobei V. Wert darauf legt, dass es bei der Beziehung zwischen Idealform und kindlicher Entwicklung nicht um Imitation  geht (wenn man böswillig ist, könnte man darin auch eine Anwendung der These sehen „die Partei hat immer recht“).
Wie man sich das sonst vorstellen kann, wird bei V. nicht besonders deutlich. Er plädiert für kleinschrittige Anpassungen an ein ideales Modell, gewissermaßen an den jeweils am meisten entwickelten gesellschaftlich-historische Standard eines Entwicklungsbereichs. Wenn im Erleben der Kinder keine Idealform vorhanden ist (wie bei den traumatisierten Kindern), dann gibt es auch keine Entwicklung. Oder mit meinen Worten: Wenn die Moral fehlt, dann gibt es auch keine Moral? Daran stimmt irgendwas und irgendwas stimmt nicht.
V.s Vorschlag lautet: die Finalform muss mit der rudimentären Form in Wechselwirkung treten. Für den Kindergarten und die Schule hieße das  dann z.B. altersgemischte Gruppen, Interaktion von Kindern und Erwachsenen etc.  Die Rolle der Umwelt spielt sich also in dieser Form der Wechselwirkung zwischen der rudimentären und der entwickelten Form ab. Aus sich selbst heraus kann sich der Mensch nicht entwickeln, es braucht die Einbindung in eine gesellschaftlich-historische Gruppe. „Diese Idealformen beeinflussen die Kinder von ihrem frühesten Lebensalter an, als Teilmoment des Prozesses der Beherrschung der rudimentären Form. Und im Verlauf ihrer Entwicklung erwerben die Kinder dann das als ihre persönliche Eigenschaft, was ursprünglich nur eine Form ihrer äußeren Wechselwirkung mit der Umwelt darstellte.“(21)
Es gibt also eine äußere Wechselwirkung und eine daraus resultierende Verinnerlichung partieller Aspekte  - oder wie V. sich ausdrückt: Teilmomente.

Es gibt einige Unterschiede zwischen den beiden Positionen (Stern u. Vygotskij:
(1) Der Begriff des Gegenwartsmoments ist eine vor allem zeitlich und emotional definierte Komponente eines komplexeren Handlungsgeschehens, vergleichbar dem Leontjewschen Operationsbegriff. V.s Erlebensbegriff ist viel allgemeiner, hat u.U. aber eine vergleichbare operationale und emotionale Gestalt, über die sich V. aber nicht auslässt.
(2) Die Zielsetzung der Autoren ist grundlegend unterschiedlich. Stern fokusiert Veränderungsprozesse in (therapeutischen) dyadischen Interaktionsprozessen, die möglicherweise Neues entstehen lassen, die aber zunächst durch bestimmte Bewusstwerdungs- oder Gewahrwerdungsprozesse und durch die Entstehung intersubjektiven Bewusstseins gekennzeichnet sind.  Vygotskij dagegen zielt auf eine allgemeine entwicklungspsychologische Theorie, mit Bezug auf und in Absetzung von den zeitgenössischen Entwicklungspsychologen/innen Piaget, Bühler, Lewin etc. Sterns Interesse oder Motivation ist nicht die Erklärung von Entwicklungsprozessen im Piagetschen oder Vygotskijschen Sinn. Er zielt vielmehr ab auf aktuelle Veränderungsprozesse im Verhaltens-, Erlebens- und Erkenntnisstrom. Seine Frage ist durchaus auf die Erklärung der Entstehung von Neuem gerichtet, allerdings in einer sehr viel konkreteren oder situativeren Form als dies für Vygotskij oder Piaget gilt. Bei Vygotskij ist damit der Begriff der Zone der nächstfolgenden Entwicklung verbunden, bei Piaget die Assimilations- und Akkommodationsprozesse einerseits und die Übergänge von einer strukturellen Ebene der Entwicklung zur nächsten.
(3) Aus beiden Positionen resultieren unterschiedliche Strategien für Veränderungs- und Entwicklungsprozesse: Vygotski ist dezidiert pädagogisch, allerdings durchaus modern (z.B. altersgemischte Lerngruppen, Plädoyer für Sinn und Bedeutung etc.), Stern ist auf den Diskurs mit wechselseitiger Anerkennung und emotionaler Beziehung orientiert.

Wenn ich mal eine gewagte These aussprechen darf, dann würde ich sagen: In allen drei Positionen spielen Bewusstwerdungsprozesse eine zentrale Rolle, auch wenn dies die Autoren u. U. bestreiten.
-       Bei Stern ist dies das Gewahrwerden einer Operation im Rahmen einer (möglicherseise interaktiven) Handlung.
-       Dieses Gewahrwerden im vorsprachlichen Stadium der Entwicklung des Kindes ist etwas Ähnliches, wenn nicht das Gleiche wie bei Piagets Experimenten mit seinen Kindern, in denen er Erwartungen durch Wiederholungen erzeugt, die er dann aber nicht einlöst und so die Kinder zum Erstaunen bringt. Sie registrieren einen Widerspruch oder ein Hindernis in der Zielerreichung. Wenn eine Assimilation nicht klappt, muss akkommodiert werden, sofern das Kind dazu in der Lage ist. Welche Rolle dabei Sprache spielt ist Piagets Geheimnis geblieben bzw. an einigen Stellen der Dokumentationen wird deutlich, dass die Kinder auch sprachlich  ihr Erstaunen zum Ausdruck bringen.
-       Bei Vygotkskij wiederum ist der Begriff des Erlebens mit dem Grad der Bewusstheit und der wiederum explizit mit den Begriffen Sinn und Bedeutung verbunden.


Was mir noch beim Lesen und Schreiben durch den Kopf ging (in Verbindung mit dem Begriff „Idealform“:
Wir haben heutzutage keine verbindlichen Normen (mehr) und keine funktionierende Moral. Es gibt keine Idealform der Kindererziehung oder der Beziehungsgestaltung. Bei uns löst sich die Mutter-Vater-Kind-Interaktion in individuelle Optimierungsphantasien auf, die aus irgendwelchen angelesenen oder medial repräsentierten Modellen ohne realen Hintergrund stammen, selten aus der eigenen Erfahrung als Kind.  Es fehlt die Vygotskijsche Objektivität im Sinne einer gesellschaftlich-historischen Norm, die sich zu seiner Zeit leider auch nicht auf eine ideale aber doch auf eine wirkmächtige Situation bezog, wie früher im alten Europa  Kirche, Kaiser und Vaterland).
Die Idealform ist eben tatsächlich eine ideale und keine reale Form, so dass sie deshalb nur in Partialbereichen – wie z.B. bei der  Sprache  und anderen entwickelten Kompetenzsystemen (Musik, Wissenschaft, Sport) – funktioniert oder funktionieren kann, wenn die Zwischenstationen und Vermittlungsformen stimmen, über die die Idealform aber keine Auskunft gibt.
Außerdem ist völlig unklar, wie denn eine Idealform sich konkret manifestiert. Wer bringt sie wie  und wann „ans Kind“?

Wie also entsteht Neues?
Aus gewaltfreier, kompetenter, authentischer, zugewandter, durch Respekt und Anerkennung gekennzeichneter  Kommunikation und Kooperation in einem sozialen und kulturellen Kontext, in dem eine Form gefunden werden muss, in der diese Kommunikation und Kooperation die Kluft zwischen Rudimentärem und sog. Idealen überbrückt. Hier wird man doch an die Konstellation Lehrling-Meister oder Novize-Könner erinnert, das unsere amerikanische Kollegin Jean Lave so schön untersucht hat.




Samstag, 2. Mai 2015

Daniel N. Stern: Der Gegenwartsmoment Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag (2004)



Frankfurt: Brandes & Apsel 2014, 4. Auflage; Original 2004, deutsche Übersetzung 2005

(Eine leicht kommentierte Zusammenfassung der ersten 8 Kapitel, S. 12-141 des gleichnamigen Buches von M. Hildebrand-Nilshon, April 2015)


Beim Gegenwartsmoment (GM) geht es um subjektives Erleben, insbesondere um subjektive Erfahrungen, die einerseits den kontinuierlichen Verhaltensstrom konstituieren und dabei andererseits – im Gegensatz zu bloßen Automatismen - Veränderungen beinhalten (oder herbeiführen), die gewahr werden. Nach Stern ist der GM die Prozesseinheit der subjektiven, gewahr werdenden Erfahrungen, sozusagen die kleinste Einheit des Erlebens, in der „die gelebte Mikrowelt“ (15) ins Bewusstsein gelangt, wobei Stern zwischen Gewahrsein und verbalisiertem Gewahrsein oder verbalisierbarem  Gewahrsein unterscheidet, es handelt sich also um implizites Wissen, das erst im Nachhinein verbalisiert wird, im Rahmen von Reflexionsprozessen über das gerade oder vor einiger Zeit Erlebte.

Sein Beispiel: Das Frühstücksinterview, in dem sich der Interviewte an das Geschehen und die Erlebnisse des morgendlichen Frühstücks erinnern soll und diese Erinnerungen dann gegenüber dem Interviewer verbalisiert: wie er z.B. die knarzende Kühlschranktür geöffnet hat, wie er feststellte, dass keine Butter da ist etc.
Der GM stellt „ eine kurze, emotionale >gelebte Geschichte< dar“ (16), für die Stern auch den Begriff „Kairos“ verwendet (den günstigen Moment; den Moment, in dem etwas Neues auftaucht). Im GM passiert etwas, was diesem Moment „Bedeutung verleiht“. In den Frühstücksinterviews ist das zumeist ein Hindernis beim routinierten Ablauf – z.B. keine Butter im Kühlschrank – oder ein positives Ereignis, in jedem Fall also etwas mit „emotionaler Ladung“. Während der Kairos-Begriff eher im Rahmen einer „Ein-Personen-Psychologie“ auftaucht und auch die Frühstücksinterviews ja individuelle Reflexionsprozesse  bezeichnen, legt Stern Wert auf eine „Zwei-Pesonen-Psychologie“.
Das klingt zunächst wie eine willkürliche Setzung, hat seine Ursache jedoch in der Genese der Arbeitsgruppe aus der Stern stammt: „Boston Change Process Study Group (Boston CPSG: Nadia Bruschweiler-Stern, Jeremy Nahum, Louis Sander, Edward Tronick, die auch das Buch „Veränderungsprozesse“ zusammen mit Stern herausgegeben haben). Diese Arbeitsgruppe befasste sich mit Fragen der Psychotherapie und Entwicklungspsychologie und insbesondere mit Veränderungsprozessen im Verlauf einer therapeutischen Interaktion und zwischen Mutter und Baby.

Insofern ist der GM ein Augenblick , in dem etwas „Affektives“ geschieht, das „von den Beteiligten gemeinsam geteilt werden muss, damit eine Veränderung des implizit gefühlten subjektiven Feldes stattfinden kann“ (17) – eben diese emotional gelebte Geschichte. Dieses Affektive hat Stern in seinen früheren Arbeiten mit dem Begriff „Vitalitätsaffekte“ bezeichnet, ein Begriff, den er im Zusammenhang mit dem GM beibehält und ausbaut (Kap. 5, S. 78 ff). Die Vitalitätsaffekte erzeugen „ eine dramatische Spannungslinie, die der Entfaltung des GM eine Gefühlskohärenz verleiht Die Vitalitätsaffekte dienen quasi als zeitliches Rückgrat des Plots.“ (85).
Im GM wird „psychische Arbeit geleistet“ (16): der Erlebnisstrom muss zu Einheiten organisiert werden („chunking“) und diesen Einheiten muss während des Prozesses irgendeine Art von Bedeutung verliehen werden, und zwar im Rahmen dieses affektiven Spannungsbogens, als Positives, Negatives, Neues.
Die zeitliche Spanne des GM beträgt zwischen 3 und 10 Sekunden und wird trotz ihrer unterschiedlichen Bestandteile als Einheit erlebt. Stern bezieht sich auf Husserls und Varelas Dreiteilung: Jetztpunkt – einem vergangenen GM – einem künftigen GM. Der vergangene (bei Husserl „Retention“) ist die unmittelbare Vergangenheit, die im aktuellen GM nachklingt, sie ist nicht aus dem Gewahrsein verdrängt, ist aber etwas anderes als das Arbeitsgedächtnis, das kurzzeitig außerhalb des Gewahrseins sein kann.  Der zukünftige GM (bei Husserl „Protention“) ist ebenfalls Teil des Erlebens, da die Erwartung im Jetzt richtungsweisend wirkt „und mitunter auch eine Vorstellung dessen vermittelt, was sich entfalten wird“ (46).
Die Dauer des GM vergleicht Stern mit der Wahrnehmung einer Phrase in der Musik.
Neben Husserl verweist Stern auch auf William Stern (psychische Präsenzzeit), auf  Koffka (aktuelle Gegenwart), auf Fraisse (wahrgenommene oder psychische Gegenwart) und Merleau-Ponty . Folgende 11  Merkmale eines „klinisch relevanten GM“ führt Stern auf:

  • Gewahrsein oder Bewusstsein
  • GM ist nicht die geschilderte Erfahrung, sondern die ursprünglich erlebte und gefühlte.
  • Der Inhalt des GM entsteht in der Zusammenarbeit zwischen Psyche und Körper, ist unmittelbares Erleben, nicht das im Nachhinein in Worten oder Bildern Festgehaltene.
  • Die Zeitspanne ist kurz (wenn man von 21 bi 24 zählt). „Für gewöhnlich aber sind uns diese Erfahrungen in dem Moment, in dem sie sich vollziehen, nicht bewusst; wir nehmen sie vielmehr erst dann bewusst wahr, wenn sie uns aus diesem oder jenem Grund mehrere Sekunden lang gewärtig bleiben.“(52)
    Zitat von S. 60 mit Bezug zur Polyvagaltheorie: „Die zeitliche Begrenzung der GMs auf etwa 10 Sekunden bedeutet nicht dass es keine größeren aus mehreren GMs gebündelten Zeiteinheiten gäbe. Sie finden sich in der Musik, aber auch in anderen Kontexten. Trevarthen (1999/2000) hat eine größere Einheit von etwa 30 Sekunden Dauer postuliert, die mit Erregungszyklen des vegetativen Nervensystems assoziiert ist. Ich habe den Eindruck, dass diese größeren Einheiten in der Regel aus Varianten mehrerer aufeinanderfolgender GMs bestehen, die das Erleben vertiefen oder erweitern.“
  • Der GM hat eine psychische Funktion: Eine Erfahrung muss genügend neu oder problematisch sein, um ins Bewusstsein zu gelangen und ein GM werden zu können. Die Funktion ist die Leistung psychischer Aktivität im Sinner der Intentionalität des Handelns. Stern sagt, der GM verbinde kleinste Vorgänge zu kohärenten Einheiten. Meine Frage dazu: die Bildung kohärenter Einheiten als Konstruktionsprinzip ist m. E. etwas Anderes als die Suche nach Neuem oder Problemlösen, denn da scheint ja zunächst etwas inkohärent zu sein? Oder umfasst der Kohärenzbegriff auch  Probleme bei der Zielerreichung?
  • GMs sind holistische Geschehnisse, als Gestalt organisiert.
  • GMs sind zeitlich dynamisch und diese dynamischen Gestalten werden als Vitalitätsaffekte bezeichnet: Erregungs- und Erwartungsanstieg sind verbunden mit Bewegungen, Muskelspannung, Körperhaltung, Fluktuationen des Interesses, der Intentionalität. Meine Frage dazu: Hier besteht u.U. eine Verbindung zur Polyvagaltheorie  von Porges (hier insbesondere die Ausführungen auf S. 54-56).
  • Der GM ist, während er sich entfaltet, teilweise nicht vorhersagbar.
  • Der GM setzt ein Selbstgefühl voraus. Sie sind die einzige Person, der ihre subjektiven Erfahrungen zuteil werden .... „Sie wissen, dass Sie selbst diese Erfahrungen machen Die Erfahrung gehört nicht einfach zu Ihnen, sie ist Sie.“(56, Hervorhebung im Original).
  • Das erlebende Selbst nimmt eine Haltung gegenüber dem GM ein. Es gibt Unterschiede im Grad der inneren Beteiligung, der emotionalen Besetzung, der Bewertung der gerade laufenden Erfahrung. Man hat eher mehr Distanz oder mehr Nähe zur aktuellen Erfahrung.
  • Unterschiedliche GMs sind von unterschiedlich hoher Bedeutung. Es gibt „große Augenblicke“ , entscheidende Momente, Moment der Wahrheit etc. oder eben auch ganz alltägliche, banale GMs: keine Butter im Kühlschrank

Aus der Mutter-Kind-Interaktionsforschung gibt es zahlreiche detaillierte Befunde, aus denen die Intervalle in den einzelnen Turns untersucht wurden (Überblick auf S. 66). Fast durchgängig zeigt sich, dass die Dauer der Episoden in den Turns von Mutter und Kind exakt dem Zeitmuster der GM folgen.
Obwohl auch die Forschungen zum Arbeitsgedächtnis ähnliche Zyklen aufweisen, hält Stern eine Identifizierung nicht für sinnvoll.

Stern vergleicht den GM mit einer Narration, die vorwiegend aus Gefühlen entsteht, die sich entfalten und bildet „somit eine Art nicht erzählter emotionaler Narration“(71). Mit Bezug auf Bruner postuliert er dass der menschliche Geist schon im präverbalen Stadium des Kleinkindes die Welt intentional analysiert und wahrnimmt. „Das narrative Format ist so angelegt, dass es Bedeutungen an Intentionen knüpft(es gibt emotionale wie auch kognitive Bedeutungen).“ (71/72) Geschichten haben dramatische Spannungsbogen, Plots mit den Elementen: Wer?, Wann? Warum? Was? Wie? Wo? Dieser dramatische Spannungsbogen, der  im Hier und Jetzt stattfindet und intentional gerichtet ist, wird durch die Vitalitätsaffekte konturiert. Sie haben eine Zeitgestalt, eine Intensitätskontur, einen Rhythmus. Z.B. kann Freude oder Lächeln auf ganz unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht werden. Vitalitätsaffekte sind nach Stern „konturierte Gefühle“: „Mit dem Begriff Zeitkontur bezeichne ich die in der Zeit (selbst in kürzesten Zeiträumen) stattfindenden objektiven Veränderungen (und seien sie noch so geringfügig) der Intensität oder Qualität der (inneren oder äußeren) Stimulation. Mit dem Begriff Vitalitätsaffekt bezeichne ich die subjektiv erlebten Veränderungen innerer Gefühlszustände, die mit der Zeitkontur des Stimulus einhergehen.“ (79, Herv. i. O.) Die Adjektive oder Verben, mit denen man sie beschreiben könnte lauten z.B. aufwallen, verblassend, flüchtig, explosiv, zögerlich, nachdrücklich, beschleunigend, verlangsamend u.ä. Sie können auch in Verbindung mit kategorialen Affekten auftreten, z.B. ein aufwallender Ärger,  eine  aufwallende Freude, müssen aber nicht damit in Verbindung stehen.  „Die Vitalitätsaffekte  spiegeln die Art und Weise wider, wie ein Akt durchgeführt wird, und reflektieren das zugrundeliegende Gefühl, das der Durchführung ihre endgültige Form verleiht.“ (80)

Unklar ist, wie das Nervensystem die zeitliche Kontur in die Vitalitätsaffekte transferiert, Stern führt verschiedene Hypothesen an, u.a. auch die Spiegelneuronen oder isomorphe Prozesse zwischen Stimulusintensität und Gefühl (z.B. anschwellendes Geräusch und Angst).


Die Kontextualisierung des GM


Obwohl der GM, wie er bisher beschrieben wurde ein individuelles subjektives Erleben darstellt, steht für Stern fest, dass er sich vor allem im intersubjektiven Kontakt entwickelt, dass es also vor allem um den Kontext ankommt, in dem das Gefühl entsteht. Dies macht klar, warum die Theorie der Spiegelneuronen natürlich eine primäre Bezugstheorie für diejenigen GMs relevant ist, für die sich Stern vor allem interessiert: die zwischenmenschlichen GM, in denen wir mit anderen Personen in Kontakt treten, in der Alltagskommunikation und für ihn vor allem in der psychotherapeutischen Kommunikation zwischen Therapeut und Klient, und in seinem Spezialfall der Psychotherapie: zwischen Mutter und Kind, womit wir wieder bei unserem Thema wären: Intention-reading. Stern verbindet das mit einem nachdrücklichen Appell für eine „Zwei-Personen-Psychologie“, die er allerdings um den Begriff der intersubjektiven Matrix erweitert.

„Wir haben die Intersubjektivität traditionell eher als eine Art Epiphänomen konzeptualisiert, das gelegentlich in Erscheinung tritt, wenn zwei getrennte und eigenständige Psychen interagieren. Heute betrachten wir die intersubjektive Matrix (die ein spezielles Subset der Kultur und der Psychotherapie darstellt) als den wichtigsten Schmelzofen, in dem interagierende Psychen ihre Gestalt annehmen.

Zwei Psychen erzeugen Intersubjektivität. Doch ebenso werden die beiden Psychen von der Intersubjektivität geformt. Das Zentrum der Schwerkraft hat sich vom Intrapsychischen auf das Interpsychische verlagert.“

Dieses Zitat erscheint mir insbesondere im Hinblick auf die Vygotskijsche Position des Entwicklungsprozesses vom Sozialen zum Individuellen, bzw. von außen nach innen interessant.  Zudem ist der Hinweis auf das „Subset der Kultur“ ein wichtiger Verweis auf die kulturelle Einbettung der intersubjektiven Matrix, sowohl in der Bourdieuschen Doxa-Tradition als auch in der Wittgensteinschen Sprachspiel-Tradition.

Als Belege für die intersubj. Matrix (IM) verweist Stern auf:
  • die Erkenntnisse in Verbindung mit den Spiegelneuronen
  • Belege aus der Entwicklungspsychologie: Beebe, Knoblauch, Rustin & Sorter 2002, die die Ansätze von Trevarthen (primäre Intersubjektivität), Meltzoff (frühe Nachahmungen)und D. Stern (Affektabstimmung) miteinander verglichen haben (vgl. auch Beebe & Lachmann 2004 auf deutsch); Jaffe et al. (2001): bi-direktionale Koordination der Vokalisierung, d.h. Erfassung des Timings des Partners; Gergely & Watson (1999): Kontingenzentdeckungsmodul mit dem Säuglinge das Verhalten mit anderen synchronisieren; die frühe Erfassung von Intentionen (Meltzoff & Moore 1999, Gergely & Csibra 1997); alter-zentrierte Partizipation (Bråten 1998); Theory of Mind-Debatte, in der das Kleinkind lernt, den Anderen und dessen Intentionen zu lesen bzw. zu verstehen
  • Klinisch Befunde: Autisten scheinen außerhalt der intersubjektiven Matrix zu leben. Imitation der Bewegungen der Mutter aus dem eigenen Blickwinkel, nicht aus dem Blickwinkel der Mutter (z.B. mit erhobenen Händen dem Anderen gegenüber, vgl. Bråten 1998 b).
  • Phänomenologie in der modernen Philosophie (nach Husserl, z.B. Clark, Damasio, Thompson, Varela, Zahavi), die von einer „verkörperten Kognition ausgeht, in der die Psyche „von Natur aus intersubjektiv offen ist, da sie partiell durch ihre Interaktion mit anderen Psychen konstituiert wird“ (107).

Stern hält Intersubjektivität für ein basales, primäres, angeborenes und universales Motivationssystem, also nicht ein Zustand, der erst im Rahmen anderer Motivationssysteme zum Tragen kommt. Sie leistet drei Beiträge zur Sicherung des Überlebens: „Sie fördert die Gruppenbildung, stärkt das Funktionieren der Gruppe und gewährleistet den Gruppenzusammenhalt, indem sie eine Moral entstehen lässt.“ (110).

Interessant ist seine Formulierung der Beziehung zwischen Bindung und Intersubjektivität. Obwohl ganz offensichtlich ein ziemlich enger Zusammenhang zwischen beiden besteht, legt Stern Wert auf eine Unterscheidung. Er  begründet das folgendermaßen:

Er benennt mehrere Faktoren, die zur Gruppenbildung führen und sie aufrechterhalten: Bindung, sexuelle Anziehung, Dominanzhierarchien, Liebe, Soziabilität und eben auch Intersubjektivität. Die Kategorie ist sowohl auf Gruppen wie auf Dyaden anwendbar, wichtig erscheint mir aber der Hinweis auf die frühen triadischen Prozesse der „Dreiwege-Intersubjektivität“, die Fivaz-Depeursinge in Lausanne schon für die ersten Lebensmonate des Babys in der Familie und der Beziehung zwischen Vater und Mutter nachgewiesen hat. Schon dieser Aspekt könnte zur Unterscheidung in Bezug zur Bindungstheorie herangezogen werden, da Bindung sich erst gegen Ende des ersten Lebensjahrs deutlich manifestiert, und eher hierarchische Beziehungen in den einzelnen Bindungsqualitäten zu den Mitgliedern der Familie postuliert (obwohl das schlecht untersucht ist, da es meines Wissens keine bindungstheoretischen Studien gibt, in denen Vater und Mutter gleichzeitig zugegen sind, wie dies von Fivaz et al. gemacht wurde).
Sterns Motivationsdimension Intersubjektivität hat zwei Pole: auf der einen Seite „kosmische Einsamkeit“, auf der anderen „mentale Transparenz, Verschmelzung und Verschwinden des Selbst.“ Er grenzt sie aber auch ab von physischer oder sexueller Anziehung, von Bindung und von Abhängigkeit. Die Bindungskategorie unterscheidet er von der Intersubjektivität und sieht erstere als Ergänzung letzterer. Das Bindungssystem regelt Nähe/Sicherheit bzw. Distanz/Exploration. Psychische Intimität fällt indes nicht in seinen Bereich. Viele Menschen, die >fest< gebunden sind, teilen keine psychische Nähe oder Intimität (sie ist in Wirklichkeit sogar das Gegenteil). Psychische Nähe wird durch das System der Intersubjektivität ermöglicht.“ (113)

Anmerkung: Warum Stern B. als das Gegenteil von Inters. sieht, habe ich nicht ganz verstanden, evtl. hat es was mit Sexualität zu tun, die in der intersubj, Matrix möglich im B-System eher ausgeschlossen ist.

Ein zentrales Argument der Unterscheidung ist bei Stern die Situation bei Autisten, bei denen es Bindung nicht jedoch Intersubjektivität gibt. Nach Stern schafft die Intersubjektivität die Bedingungen, die der Entwicklung von Bindungen förderlich sind. Wenn das so wäre, würde das Beispiel der Autisten nicht passen, denn hier entwickelt sich ja Bindung nur durch eine einseitige Intersubjektivität von Seiten der Bezugspersonen, wenn man das so formulieren kann (Intersubjektivität ohne Subjekt ist ja eigentlich nicht möglich).

Theoretisch und klinisch hält Stern die Unterscheidung für wichtig:
„Menschen können ohne intersubjektive Intimität aneinander gebunden sein; andererseits können sie intersubjektive Vertrautheit miteinander erleben, ohne aneinander gebunden zu sein. Und des weiteren gibt es auch Bindung bei gleichzeitiger intersubjektiver Nähe bzw. Bindungslosigkeit bei gleichzeitiger intersubjektiver Distanz. Eine wirklich erfüllte Verbindung zwischen Menschen setzt Bindung und Intersubjektivität plus Liebe voraus. In der klinischen Situation ist die Intersubjektivität unverzichtbar, während der Bindung und der Liebe ein weniger hoher Stellenwert zukommt. Gleichwohl entwickelt sich zumeist eine Mixtur aus allen drei Elementen in unterschiedlichen Proportionen.“ (113)

Stern stellt fest, dass sich beide Systeme wechselseitig unterstützen und beide Gruppenzusammenhalt unterstützen, dass sie aber unabhängig voneinander sind.
Wichtig ist noch der Hinweis, dass in manchen Kulturen die intersubjektive Matrix viel mächtiger oder bedeutsamer ist als die persönliche, einzigartige und autonome Psyche, die es vorwiegend in de Industrieländern gibt. Verstoßung aus der Gruppe oder soziale Marginalisierung kann sich dabei gravierend auswirken (von Stern nicht berichtet, doch von Ethnologen sehr wohl: Verstoß als Todesurteil ohne Henker).

Die Frage nach dem Vordringlichkeitswert (Gefühl nach Dringlichkeit eines Ziels, Befriedigung und Wohlbefinden nach Erreichen u.ä.) des Motivs Intersubjektivität beantwortet Stern ganz eindeutig: Ja, es handelt sich um ein außerordentlich wichtiges menschliches Motiv, das in vielen, wenn nicht in allen sozialen Situationen zuerst geklärt werden muss: „Wo stehe ich? Was ist im Gange? Wo bin ich? Wie muss oder kann ich mich in der Gruppe verorten? Wie bin ich akzeptiert?“ Negative Antworten auf solche Fragen erzeugen Angst.

Dieses Motiv konstituiert auch die Definition, Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Selbstidentität und Selbstkohärenz. „Wir sind auf den Blick anderer Menschen angewiesen, um uns selbst Gestalt und Zusammenhalt geben zu können. Aus dieses Bedürfnis, vom Anderen beachtet zu werden, kann vordringlich sein.“ (118) Dieses Bedürfnis nach Selbstkohärenz in der sozialen Interaktion, die Frage, ob es ein „wahres Selbst“ oder ob es mehrere Selbste gibt, die Konstruktion eines imaginierten Gefährten, mit dem sich Kinder und Jugendliche mit ihrer eigenen Subjektivität in einer künstlichen Inter-Intra-Subjektivität befassen, sind Manifestationen eines starken, bedürfnisartigen Motivs nach Intersubjektivität. Als Spezialfall perfekt funktionierender Intersubjektivität skizziert Stern das Verhalten des Ineinander-Verliebtseins.

Der GM ist implizites Wissen (Stern spricht von „implicit knowing“), d.h. nicht-symbolisch, nonverbal, prozedural und unbewusst im Sinn von nicht bewusst reflektiert. Es enthält nicht nur körperbezogene, motorische Abläufe, sondern Affekte, Erwartungen, Aktivierungs- und Motivationsschwankungen, Denkstile, Bindungsmuster (Bowlbys Arbeitsmodelle). Stern zitiert zwei weitergehende Differenzierungen des impliziten Wissens:

  • W.Bucci (1997, 2001) Impl. Wissen besteht einerseits aus einem subsymbolischen, nonverbalen Kode, bestehend aus kontinuierlichen, analogen Erfahrungen (z.B. wie man ein Bild malt), andererseits aus einem symbolischen, nonverbalen Kode, bestehend aus nonverbalen Erfahrungen und Informationen wie der imagistischen Kenntnis des Gesichts eines bestimmten Menschen. Hinzu kommt dann der verbale Kode.
  • Alan Fogel (2001, 2003) Implizites Gedächtnis besteht aus zwei Typen: einem „regulatorischen impliziten Gedächtnis“, das es uns ermöglicht, unsere Reaktionen unbewusst auf die sensorischen, motorischen und affektiven Aspekte unserer physikalischen und sozialen Umwelt abzustimmen (z.B. bei Bindungsmustern), bei der Entstehung eines Kernselbst (nach D. Stern), eines primären Selbst (nach Damasio) und eines dialogischen Selbst (nach Fogel et al. 2002) oder eines objektiven Selbst (nach Rochat 1995), sowie bei der Bildung eines affektiven Selbst (nah Schore, 1994). Den zweiten Typ nennt er „partizipatorisches Gedächtnis“, das in spezifischen Kontexten aktiviert wird und implizite Erinnerungen wiederbelebt, z.B. Traumatische Erinnerungen, die aktuell wiederbelebt werden.

Stern ist der Meinung, dass nur ein kleiner Teil dieses impliziten Wissens verbalisiert wird und wohl auch verbalisiert werden kann, obwohl es im Prinzip verbalisiert werden könnte, wenn es notwendig wird oder wenn es keine psychischen Blockaden gibt.

Der Begriff des Unbewussten soll nach Stern dem „ ....  verdrängten Material vorbehalten bleiben, dem eine Abwehrschranke den Zugang ins Bewusstsein verwehrt“.(127)

Für die Psychotherapie stellt die Kategorie des impliziten Wissens, das kein unbewusstes Wissen ist, ein Problem dar, weil in der Therapiesituation unklar bleibt, wo implizites Wissen wirksam ist und wo Übertragungsprozesse stattfinden. Man kann nur von „Widerstand“ im psychoanalytischen Sinn sprechen, wo verdrängtes, dynamisches unbewusstes Material im Spiel ist, und das ist nur der kleinste Teil in der Mutter-Kind-Therapie.

Im 8. Kapitel entwirft Stern eine Terminologie zur Differenzierung der verschiedenen „Bewusstseinstypen“ im Spannungsfeld zwischen  Bewusstem und Nicht-Bewusstem, Implizitem und Explizitem. Sein neuer Begriff dabei ist der Begriff „intersubjektives Bewusstsein,“ Ziel ist die Klärung des Bewusstseinsbegriffs für die psychotherapeutische Situation im dritten Teil des Buchs.

„Wenn zwei Menschen in einem gemeinsamen Gegenwartsmoment zusammen eine intersubjektive Erfahrung erzeugen, überschneiden sich das phänomenale Bewusstsein des einen Beteiligten mit dem phänomenalen Bewusstsein des anderen und schließt es partiell mit ein. Sie haben Ihre eigene Erfahrung und hinzu kommt die Erfahrung des anderen – das heißt die Art und Weise, wie er Sie erlebt - , die Sie seinen Augen, seiner Körperhaltung, seinem Tonfall usw. ablesen können. Das, was Sie selbst erleben, und das, was der Andere erlebt, muss nicht genau dasselbe sein, denn diese Erfahrungen haben einen unterschiedlichen Ursprung und eine unterschiedliche Orientierung. Sie können ein wenig unterschiedlich gefärbt und geformt sein und sich unterschiedliche anfühlen. Aber sie sind einander so ähnlich, dass ihre wechselseitige Validierung das >Bewusstsein< weckt, dieselbe mentale Landschaft zu bewohnen Ebendies ist intersubjektives Bewusstsein.“ (135, Herv. i.O.)

Tronick (1998) verwendet den Begriff „erweitertes dyadisches Bewusstsein“ für die Therapeut-Klient-Beziehung. Ich finde den Begriff besser. Stern merkt an, dass mit diesem Begriff nicht klar wäre, was bewusst wird und was nicht, so dass man besser von potentiellem Bewusstsein reden könnte. Ich finde Tronicks Begriff aber klarer als die Bezeichnung Sterns, bei der es ebenso wenig klar ist, was denn hier bewusst würde, was also nur gewahr bleibt und was reflexiv ist. Denn auch im therapeutischen Dialog sind die Bedeutungen der verwendeten Wörter keineswegs geteilt, vermutlich eher im Gegenteil.

Im Folgenden schildert Stern die neurophysiologische Erklärung der Genese des Bewusstseins – hierbei ist unklar, ob Edelmann (1990), auf den er hier verweist, sich überhaupt mit der Unterscheidung von phänomenalem und reflexivem Bewusstsein befasst.  Bewusstsein entstünde dadurch, dass eine Neuronengruppe, die durch einen Stimulus aktiviert wird und die Information an eine weitere Neuronengruppe weitergibt, die dann einen Wahrnehmungsprozess organisiert, deren Ergebnis in eine Reentry-Schleife an die erste Neuronengruppe zurückmeldet. Dieser Prozess der wechselweisen Aktivierung und Rückkoppelung kann sich vervielfachen, wodurch die Erfahrung mehrkanalig zur Verfügung steht, was dann angeblich den Bewusstwerdungsprozess bewirkt: verschiedene Schaltkreise befassen sich in einer multifocusierten Reiteration mit dem gleichen Phänomen.
Im dyadischen Prozess bei Stern kommen noch die diversen wechselseitigen Aufmerksamkeitsausrichtungen, Augenkontakte etc. hinzu, was Stern zu einem neuen Begriff seiner Meinung nach legitimiert. Aus der Tatsache, dass also der Prozess durch zwei untereschiedlich-gemeinsame Rückkoppelungsschleifen läuft, entsteht nach Stern ein Prozess „höherer Ordnung“: das intersubjektive Bewusstsein.
Leider kommt in der Argumentation die Unterscheidung zwischen phänomenalem und reflexivem Bewusstsein, die vorher gemacht wurde, unter die Räder. Ursprünglich dachte ich deshalb, dass Stern einen Unterschied zwischen dem einfachen Gewahrsein eines Wahrnehmungsaktes eines einzelnen Individuums und dem Gewahrsein beider Individuen in einem dyadischen Akt, in dem beide zusammen etwas wahrnehmen  oder tun, macht. Dass der Begriff intersubjektives Bewusstsein also eine Spielart des phänomenalen Bewusstseins bei zwei Personen sei. Das sagt er aber nicht, sondern er plädiert für ein „ein sozialeres Verständnis des Bewusstseins.“ (136)

Vermutlich meint er deshalb, dass er sich auch von der Interpretation Edelmanns lösen will und reflexives Bewusstsein beim Menschen als sozialen Prozess konstruiert. Das sagt er so aber nicht deutlich.

In den folgenden Ausführungen zur Erläuterung dieses „sozialeren Verständnisses“ geht Stern deshalb über die vorher gemachte Unterscheidung zwischen phänomenalen und reflexivem Bewusstsein weg. Er vertritt eine „Theorie der sozialen Spiegel, dass reflexives Bewusstsein seinem Ursprung nach sozial ist und eine gemeinsame Erfahrungswelt und soziale Reflexivität voraussetzt.“(137) Er zitiert Autoren, wie z.B. Vygotskij , Mead, Bruner usw., die sich mit der Genese der Bedeutungen befassen, nicht mit der Genese des phänomenalen Bewusstseins.
Die Lösung des Rätsels kommt dann allerdings auf der nächsten Seite:

„Reflexives Bewusstsein kann erst auftauchen, sobald ein >Anderer< anwesend ist, um zu bezeugen, dass wir eine phänomenale Erfahrung haben – mit anderen Worten: um die Rolle des Homunkulus zu spielen, der im Theater des Geistes hockt. Das Reentry erfolgt über Ihre Wahrnehmung der Wahrnehmung die der Andere von Ihrer Wahrnehmung hat (die Erfahrung des Anderen wird intersubjektiv erfasst).
Der andere muss sich von dem Selbst, das die Erfahrung macht, unterscheiden.“ (138)

Hier wird also kurzer Hand eine kleine Theorie der Sprachevolution vorgestellt (habe ich in dieser Form auch schon mal irgendwo geschrieben).

Im Folgenden geht Stern darauf jedoch nicht ein, sondern entwickelt die These vom Teilen  des subjektiven Erlebens mi anderen Personen, für ihn natürlich zwischen Therapeut und Klient. In dem Zusammenhang wird auch wieder der Verweis auf die auch in der Interaktion feuernden Spiegelneuronen relevant, der die Position des überindividuellen Bewusstseinsaktes stützt.

Hauptbezugsautor des nächsten Abschnitts ist dann Zelazo (1996, 1999) und seine „levels of consciousness“, die Stern übernimmt. Er fragt, ob die uns bekannten und hinlänglich geschilderten Fähigkeiten zur gemeinsamen Aufmerksamkeitsausrichtung, Gesten etc. ab dem 9. Monat dem Säugling reflexiv bewusst sind. Eine gute Frage!

Nach Zelazo ist „consciousness-ness“ weniger offensichtlich, stattdessen spricht er von einer neuen Fähigkeit des Babys: Zelazo „bezeichnet die intrapsychische Rekursivität als entscheidenden Entwicklungssprung, der die notwendige Voraussetzungen dafür schafft, bewusst zu sein.“ (139) Dieser neurophysiologischen Erklärung schließt sich Stern nicht an:
„Wir haben eine These auf der phänomenalen Ebene formuliert. Im Alter von etwa neun bis zwölf Monaten finden Säuglinge Zugang zu einer sekundären Intersubjektivität (Stern 1985, Trevarthen & Hubley, 1978) Ich behaupte, dass die Fähigkeit des Kindes zur Intersubjektivität der entscheidende Sprung ist, der diese neuen Verhaltensweisen auftauchen lässt. Was Zelazo als rekursives oder reflexives Bewusstsein bezeichnet beginnt als intersubjektives Bewusstsein.“(139/40)

Dieses intersubjektive Bewusstsein taucht nur in relativ intensiven Interaktionen auf (z.B. in einer Therapie). Der Rest muss wörtlich zitiert werden:

„Die Beteiligten erzeugen gemeinsam eine Erfahrung; das phänomenale Bewusstsein der beiden Partner weist trotz der unterschiedlichen Orientierungszentren eine Übereinstimmung oder zumindest eine große Überlappung auf. Abgesehen davon, dass beide eine ähnliche phänomenale Erfahrung haben, besitzt auch jeder von ihnen ein direktes Gewahrsein der  Erfahrung des Anderen sowie ein Gewahrsein der Übereinstimmung dieser Erfahrung mit seinem eigenen Erleben. Damit dies funktionieren kann, muss auch die Selbst-Bewusstheit aktiv sein, denn sonst könnte es, was das Subjekt der phänomenalen Erfahrung betrifft, zu Verwechslungen kommen. Die zwei Erfahrungen sind notwendig. Weil dies ein wechselseitiger Prozess ist, wird die gemeinsam geteilte Erfahrung >öffentlich<. Eine Art sozialer Reflexivität mündet in intersubjektives Bewusstsein ein.“ (140)

Damit lösen sich die oben genannten Probleme und Fragen. Ein insgesamt zufriedenstellender Befund.

Der Dritte Teil des Buches (Kapitel 9-13, S. 144-231) befasst sich mit den klinischen Perspektiven des Gegenwartsmoments.

Donnerstag, 5. März 2015

René A. Spitz, „Eine genetische Feldtheorie der Ichbildung“ (1958)


René Spitz ist vor allem berühmt für seine Untersuchungen an Kindern in Säuglingsheimen, die er Mitte der 30er Jahren in Wien begann. Er konnte feststellen, dass kleine Kinder nicht überleben konnten, wenn sie menschliche Interaktion und menschliche Berührung entbehren mussten, trotz guter Ernährung, sicherer Unterbringung, guter hygienischer und medizinischer Versorgung,. Er konnte berichten, dass Kinder, die in einem Waisenhaus unter der klinischen Fürsorge von Kinderschwestern in 8-Stunden-Schichten betreut wurden, nicht wachsen wollten und hinter der alterstypischen Entwicklung zurückblieben. Mehr als ein Drittel dieser Kinder starb. Die meisten von ihnen waren körperlich, geistig und sozial zurückgeblieben. Eine Behinderung, die für viele von ihnen lebenslang bestehen blieb.

Aber nicht nur die Ergebnisse dieser Untersuchungen waren bahnbrechend. Spitz wandte auch als erster vielfältige Verfahren der Dokumentation der Mutter-Kind-Interaktion an wie systematische Beobachtung, Foto- und Filmaufnahmen. Er kann als Pionier der empirischen Erforschung der Mutter-Kind-Interaktion angesehen werden

Die vorliegende Arbeit von Spitz, die er 1958 als Vorlesung in den „Freud Anniversary Lecture Series“ des New York Psychoanalytic Institute gehalten hat, stellt eine Zusammenfassung und theoretische Verdichtung seiner bisherigen Arbeiten dar. Sein Ziel ist eine allgemeine theoretische Konzeption der Entwicklung des Kleinkindes, die gelungene und misslungene Entwicklung gleichermaßen erklärt – und die damit sowohl der theoretischen Notwendigkeit der Erklärung wie der praktischen Notwendigkeit von Prävention und Therapie genügt. Dabei ist dieser theoretische Entwurf deshalb hier besonders einschlägig, weil das Thema der zwei Linien der Entwicklung sich wie ein roter Faden durch das gesamte Vorhaben zieht.

Wir haben bis jetzt immer davon gesprochen, dass die Linien der biologischen und psychologischen Entwicklung, die Linien von Natur und Kultur miteinander verschmelzen, dass sie sich in einander auflösen. Wobei diese Idee einer Verschmelzung und Auflösung immer auch einen gewissen Erklärungsnotstand hinterlassen hat. Um nur ein Beispiel zu nennen: das Entstehen von Neuem in der Entwicklung bleibt bei der Verschmelzungsmetapher weitgehend unthemasiert – es sei denn, man nehme die Verschmelzung selbst als das Neue, was aber unbefriedigend bleibt[1].

Spitz versucht in seinem theoretischen Entwurf eine genauere Fassung der paradoxen Interaktion der zwei Linien und der Entstehung des Neuen in der Entwicklung vorzulegen. Er benutzt für dieses Vorhaben eine Analogie aus der Embryologie.  Diese Analogie ist die Teilung der befruchteten Eizelle (Zygote). Spitz bezieht sich in seiner Analogie auf die Forschungen von Spemann, Waddington und Needham zur Epigenese.

Spemann (1936) hatte in seinen experimentellen embryologischen Untersuchgen festgestellt, dass in einer befruchteten Eizelle sich zwei Bereiche des Plasmas nach ihrer Dichte unterscheiden lassen: einen hellen und einen dunklen Bereich (siehe Abbildung). Beide Bereiche werden von einer dünnen Membran auseinander gehalten, dem „grauer Halbmond.“ Spemann wies nach, dass dieser graue Halbmond entscheidend am Ablauf der Zellteilung und ihrem Fortgang beteiligt, der zunächst zu einer Einstülpung und dann zu dem führt, was der „Urmund“ einer Zelle genannt wird, der Öffnung für Nahrungsaufnahme und –ausscheidung. Er nannte ihn deshalb den Organisator, der auch als Spemann-Mangold-Organisator bekannt ist

 
Darstellung einer befruchteten Eizelle (Zygote)

Es ist interessant zu sehen, dass der Organisator ja kein im eigentlichen Sinne physiologischer oder chemischer Begriff ist. Dazu bemerkt Spemann:

Immer wieder sind Ausdrücke gebraucht worden, welche keine physikalischen, sondern psychologische Analogien bezeichnen. Daß dies geschah, soll mehr bedeuten als ein poetisches Bild. Es soll damit gesagt werden, daß die ortsgemäße Reaktion eines mit den verschiedensten Potenzen begabten Keimstücks in einem embryonalen ‚Feld‘, sein Verhalten in einer bestimmten ‚Situation‘, keine gewöhnlichen einfachen oder komplizierten chemischen Reaktionen sind. Es soll heißen, dass diese Prozesse, wie alle vitalen Vorgänge, … mit nichts so viel Ähnlichkeit haben, wie mit jenen vitalen Vorgängen, von welchen wir die intimste Kenntnis haben, den psychischen. (Spemann, 1936, S. 278).

Während sich also Spitz in seinem psychologischen Bemühen um eine Theorie der Entwicklung auf eine Analogie zur Embryologie Spemanns bezieht, bezieht sich dieser auf eine psychologische Analogie. Das kann letzten Endes nur dazu führen, dass man sich darin einig ist, dass es sich um irgendeine „Kraft“, ein „Feld“ oder ein „energetisches System“ handelt. Während also Spitz durch den Rekurs auf die Analogie zur Embryologie so etwas wie einen „Realitätsbezug“ seiner Theorie und ihrer Dignität absichern will, lässt Spemann erkennen, dass eine ausschließlich naturwissenschaftliche Analyse nicht vollständig sein kann.

Spitz benutzt jedenfalls das Konzept des Organisators um deutlich zu machen, dass sich in der Entwicklung des Kindes drei wesentliche Neuorganisationen aufweisen lassen, die beschreiben sollen, wie sich das Verhältnis von Reifung und Entwicklung grundsätzlich verändert und Neues in der Entwicklung entsteht.

Dieses Entstehen von Neuem in der Entwicklung macht er an drei paradigmatischen Beispielen deutlich: dem ersten Lächeln, der Achtmonatsangst und der Nein-Geste. 


Die drei (bzw. vier) Stufen der Entwicklung bei Spitz (1972)

Man muss sich an dieser Stelle noch einmal klar machen, dass der Begriff der Objektbeziehung hier nicht annähernd so etwas meint, was Piaget oder die kulturhistorische Schule darunter verstanden haben. Vielmehr muss man sich zu Objekt immer ergänzend „Objekt libidinöser Beziehungen“ dazu denken, worunter naturgemäß auch die Mutter-Kind-Interaktionen subsumiert werden können – jedenfalls unter einer psychoanalytischen Perspektive. In gewisser Hinsicht lässt sich so formulieren, dass die Affekte für Spitz die zentrale organisierende Funktion in der Entwicklung innehaben:
Um terminologische Konfusion zu vermeiden, möchte ich wiederholen, daß der Organisator ein theoretisches Konstrukt ist. Er bezeichnet einen Zustand der Koordination und Integration einer Reihe somatischer und psychischer Funktionen. Diese Integration führt zu einer neuen Stufe der Organisation, welche die Eigenschaften der Elemente, aus denen sie entstammen, verändert. Von den Embryologen wird dieser Zustand exakt ausgedrückt, wenn sie sagen, daß die neue Organisationsstufe sich nicht durch die Eigenschaften ihrer elementaren Einheiten erklären läßt; daß die Kohärenz der höheren Stufe vielmehr von den Eigenschaften abhängt, die die einzelnen Elemente zwar besaßen, die sie aber nicht entfalten konnten, bevor sie in eine bestimmte Beziehung zueinander getreten waren ... Indes, der Weg, der zu dieser Integration isolierter Funktionen führt, wird von den Objektbeziehungen des Kindes gebahnt, von Erfahrungen affektiver Natur. Daher ist der Indikator des Organisators der Psyche affektiver Natur; er ist ein affektives Verhalten, das der Entwicklung in allen anderen Bereichen der Persönlichkeit deutlich um einige Monate vorausgeht (Spitz, 1972, S. 82).

Diese Schrittmacherfunktion des Affekts hat Needham für den Organisator auf eine Art und Weise formuliert, die entfernt an die „Zone der nächsten Entwicklung“ von Vygotskij erinnert:

Ein Organisator ist also ein Schrittmacher für eine bestimmte Entwicklungsachse ..., der vermittels quantitativer Unterschiede, die an dieser Achse entlang in meßbaren Abständen variieren, wirksam wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er für das Phänomen verantwortlich, das von experimentellen Biologen unter dem Namen Wirkungsfeld, Organisationsfeld oder Determinierungsfeld beschrieben wird (Needham 1931, S. 1627; zit. nach Spitz 1972).

Es ist erstaunlich, dass Spitz, obwohl er so viel zur Erforschung der Mutter-Kind-Interaktion beigetragen hat, dieses interaktive Sozialverhalten, seine Genese, Rolle und Entwicklung in keiner Weise zum Gegenstand und Thema seiner theoretischen Bemühungen macht. Man muss selbst die Stellen suchen, an denen er seine eigenen Forschungsergebnisse zitiert, die auf die interaktive Grundlage des Hospitalismus aufmerksam gemacht habe. Aber theoretisch löst er diese Bedeutung nicht ein. Das mag zum einen daran liegen, dass die Analogie zur Embryologie zu stark ist und er sich, auch wenn er immer wieder betont, dass es „bloß eine Analogie“ sein, und Analogien seien ja legitim in der Wissenschaft, nicht von Faszination dieser Analogie lösen. Dies mag zum einen daran liegen, dass er versucht, seine Konzeption der Entwicklung in das undiskutierte Schema der Psychoanalyse einzupassen, das er quasi als gegeben voraussetzt: die Entwicklung von Es – Ich – Überich und die Phasenlehre von oraler, analer und phallischer Phase. Das Faszinosum der embryonalen Analogie mit ihrer Betonung auf dem Organisator als Kraftfeld mag darüberhinaus in eher impliziten Ähnlichkeiten seinen Ursprung haben: 1.) in der Ähnlichkeit der Dreifachstruktur von Organisator und den beiden Bereichen unterschiedlicher Sättigung in der Eizelle mit der Struktur von Es – Ich – Überich; 2.) in der Parallelität zu Freuds „Entwurf einer Psychologie“ von 1895 in der Freud versuchte, ein energetisches Modell der Psyche zu entwickeln, das er dann aufgeben musste, dessen Wirkungen im Konzept der „Spannung“ und des energetischen „Triebes“ aber unverkennbar sind.

Am Ende dieser Darstellung ist darüber hinaus anzumerken, dass zwei kritische Punkte einer Theorie der kindlichen Entwicklung geklärt und ausgearbeitet werden müssen:

-       die Entstehung von Neuem und das Teil-Ganzes-Problem

-       die Notwendigkeit interdisziplinärer Beziehungen, die über Analogien hinausgehen



Literatur

Davydov, V. V. und Zinchenko, V. P. (1982). Das Entwicklungsprinzip in der Psychologie. Gesellschaftswissenschaft, Nr. 2, 128-145.
Spemann, H. (1936). Experimentelle Beiträge zu einer Theorie der Entwicklung. Berlin: Springer.
Needham, J. (1931). Chemical embryology. Vol. III. London. Macmillan.
Spitz, R. A. (1945). An inquiry into the genesis of psychiatric conditions in early childhood. Psychoanalytic Study of the Child, 1, 53-74.
Spitz, R. A. (1946). Hospitalism:  A  follow-up  report on investigation described in Vol.1, 1945. Psychoanalytic  Study  of  the  Child,  2, 113-117.
Spitz, R. A. (1972). Eine genetische Feldtheorie der Ichbildung. Frankfurt/M.: S. Fischer.



[1] An dieser Stelle sollte unbedingt noch einmal Bezug genommen werden zu dem famosen Aufsatz von Davydov & Zinchenko (1982)