Samstag, 2. Mai 2015

Daniel N. Stern: Der Gegenwartsmoment Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag (2004)



Frankfurt: Brandes & Apsel 2014, 4. Auflage; Original 2004, deutsche Übersetzung 2005

(Eine leicht kommentierte Zusammenfassung der ersten 8 Kapitel, S. 12-141 des gleichnamigen Buches von M. Hildebrand-Nilshon, April 2015)


Beim Gegenwartsmoment (GM) geht es um subjektives Erleben, insbesondere um subjektive Erfahrungen, die einerseits den kontinuierlichen Verhaltensstrom konstituieren und dabei andererseits – im Gegensatz zu bloßen Automatismen - Veränderungen beinhalten (oder herbeiführen), die gewahr werden. Nach Stern ist der GM die Prozesseinheit der subjektiven, gewahr werdenden Erfahrungen, sozusagen die kleinste Einheit des Erlebens, in der „die gelebte Mikrowelt“ (15) ins Bewusstsein gelangt, wobei Stern zwischen Gewahrsein und verbalisiertem Gewahrsein oder verbalisierbarem  Gewahrsein unterscheidet, es handelt sich also um implizites Wissen, das erst im Nachhinein verbalisiert wird, im Rahmen von Reflexionsprozessen über das gerade oder vor einiger Zeit Erlebte.

Sein Beispiel: Das Frühstücksinterview, in dem sich der Interviewte an das Geschehen und die Erlebnisse des morgendlichen Frühstücks erinnern soll und diese Erinnerungen dann gegenüber dem Interviewer verbalisiert: wie er z.B. die knarzende Kühlschranktür geöffnet hat, wie er feststellte, dass keine Butter da ist etc.
Der GM stellt „ eine kurze, emotionale >gelebte Geschichte< dar“ (16), für die Stern auch den Begriff „Kairos“ verwendet (den günstigen Moment; den Moment, in dem etwas Neues auftaucht). Im GM passiert etwas, was diesem Moment „Bedeutung verleiht“. In den Frühstücksinterviews ist das zumeist ein Hindernis beim routinierten Ablauf – z.B. keine Butter im Kühlschrank – oder ein positives Ereignis, in jedem Fall also etwas mit „emotionaler Ladung“. Während der Kairos-Begriff eher im Rahmen einer „Ein-Personen-Psychologie“ auftaucht und auch die Frühstücksinterviews ja individuelle Reflexionsprozesse  bezeichnen, legt Stern Wert auf eine „Zwei-Pesonen-Psychologie“.
Das klingt zunächst wie eine willkürliche Setzung, hat seine Ursache jedoch in der Genese der Arbeitsgruppe aus der Stern stammt: „Boston Change Process Study Group (Boston CPSG: Nadia Bruschweiler-Stern, Jeremy Nahum, Louis Sander, Edward Tronick, die auch das Buch „Veränderungsprozesse“ zusammen mit Stern herausgegeben haben). Diese Arbeitsgruppe befasste sich mit Fragen der Psychotherapie und Entwicklungspsychologie und insbesondere mit Veränderungsprozessen im Verlauf einer therapeutischen Interaktion und zwischen Mutter und Baby.

Insofern ist der GM ein Augenblick , in dem etwas „Affektives“ geschieht, das „von den Beteiligten gemeinsam geteilt werden muss, damit eine Veränderung des implizit gefühlten subjektiven Feldes stattfinden kann“ (17) – eben diese emotional gelebte Geschichte. Dieses Affektive hat Stern in seinen früheren Arbeiten mit dem Begriff „Vitalitätsaffekte“ bezeichnet, ein Begriff, den er im Zusammenhang mit dem GM beibehält und ausbaut (Kap. 5, S. 78 ff). Die Vitalitätsaffekte erzeugen „ eine dramatische Spannungslinie, die der Entfaltung des GM eine Gefühlskohärenz verleiht Die Vitalitätsaffekte dienen quasi als zeitliches Rückgrat des Plots.“ (85).
Im GM wird „psychische Arbeit geleistet“ (16): der Erlebnisstrom muss zu Einheiten organisiert werden („chunking“) und diesen Einheiten muss während des Prozesses irgendeine Art von Bedeutung verliehen werden, und zwar im Rahmen dieses affektiven Spannungsbogens, als Positives, Negatives, Neues.
Die zeitliche Spanne des GM beträgt zwischen 3 und 10 Sekunden und wird trotz ihrer unterschiedlichen Bestandteile als Einheit erlebt. Stern bezieht sich auf Husserls und Varelas Dreiteilung: Jetztpunkt – einem vergangenen GM – einem künftigen GM. Der vergangene (bei Husserl „Retention“) ist die unmittelbare Vergangenheit, die im aktuellen GM nachklingt, sie ist nicht aus dem Gewahrsein verdrängt, ist aber etwas anderes als das Arbeitsgedächtnis, das kurzzeitig außerhalb des Gewahrseins sein kann.  Der zukünftige GM (bei Husserl „Protention“) ist ebenfalls Teil des Erlebens, da die Erwartung im Jetzt richtungsweisend wirkt „und mitunter auch eine Vorstellung dessen vermittelt, was sich entfalten wird“ (46).
Die Dauer des GM vergleicht Stern mit der Wahrnehmung einer Phrase in der Musik.
Neben Husserl verweist Stern auch auf William Stern (psychische Präsenzzeit), auf  Koffka (aktuelle Gegenwart), auf Fraisse (wahrgenommene oder psychische Gegenwart) und Merleau-Ponty . Folgende 11  Merkmale eines „klinisch relevanten GM“ führt Stern auf:

  • Gewahrsein oder Bewusstsein
  • GM ist nicht die geschilderte Erfahrung, sondern die ursprünglich erlebte und gefühlte.
  • Der Inhalt des GM entsteht in der Zusammenarbeit zwischen Psyche und Körper, ist unmittelbares Erleben, nicht das im Nachhinein in Worten oder Bildern Festgehaltene.
  • Die Zeitspanne ist kurz (wenn man von 21 bi 24 zählt). „Für gewöhnlich aber sind uns diese Erfahrungen in dem Moment, in dem sie sich vollziehen, nicht bewusst; wir nehmen sie vielmehr erst dann bewusst wahr, wenn sie uns aus diesem oder jenem Grund mehrere Sekunden lang gewärtig bleiben.“(52)
    Zitat von S. 60 mit Bezug zur Polyvagaltheorie: „Die zeitliche Begrenzung der GMs auf etwa 10 Sekunden bedeutet nicht dass es keine größeren aus mehreren GMs gebündelten Zeiteinheiten gäbe. Sie finden sich in der Musik, aber auch in anderen Kontexten. Trevarthen (1999/2000) hat eine größere Einheit von etwa 30 Sekunden Dauer postuliert, die mit Erregungszyklen des vegetativen Nervensystems assoziiert ist. Ich habe den Eindruck, dass diese größeren Einheiten in der Regel aus Varianten mehrerer aufeinanderfolgender GMs bestehen, die das Erleben vertiefen oder erweitern.“
  • Der GM hat eine psychische Funktion: Eine Erfahrung muss genügend neu oder problematisch sein, um ins Bewusstsein zu gelangen und ein GM werden zu können. Die Funktion ist die Leistung psychischer Aktivität im Sinner der Intentionalität des Handelns. Stern sagt, der GM verbinde kleinste Vorgänge zu kohärenten Einheiten. Meine Frage dazu: die Bildung kohärenter Einheiten als Konstruktionsprinzip ist m. E. etwas Anderes als die Suche nach Neuem oder Problemlösen, denn da scheint ja zunächst etwas inkohärent zu sein? Oder umfasst der Kohärenzbegriff auch  Probleme bei der Zielerreichung?
  • GMs sind holistische Geschehnisse, als Gestalt organisiert.
  • GMs sind zeitlich dynamisch und diese dynamischen Gestalten werden als Vitalitätsaffekte bezeichnet: Erregungs- und Erwartungsanstieg sind verbunden mit Bewegungen, Muskelspannung, Körperhaltung, Fluktuationen des Interesses, der Intentionalität. Meine Frage dazu: Hier besteht u.U. eine Verbindung zur Polyvagaltheorie  von Porges (hier insbesondere die Ausführungen auf S. 54-56).
  • Der GM ist, während er sich entfaltet, teilweise nicht vorhersagbar.
  • Der GM setzt ein Selbstgefühl voraus. Sie sind die einzige Person, der ihre subjektiven Erfahrungen zuteil werden .... „Sie wissen, dass Sie selbst diese Erfahrungen machen Die Erfahrung gehört nicht einfach zu Ihnen, sie ist Sie.“(56, Hervorhebung im Original).
  • Das erlebende Selbst nimmt eine Haltung gegenüber dem GM ein. Es gibt Unterschiede im Grad der inneren Beteiligung, der emotionalen Besetzung, der Bewertung der gerade laufenden Erfahrung. Man hat eher mehr Distanz oder mehr Nähe zur aktuellen Erfahrung.
  • Unterschiedliche GMs sind von unterschiedlich hoher Bedeutung. Es gibt „große Augenblicke“ , entscheidende Momente, Moment der Wahrheit etc. oder eben auch ganz alltägliche, banale GMs: keine Butter im Kühlschrank

Aus der Mutter-Kind-Interaktionsforschung gibt es zahlreiche detaillierte Befunde, aus denen die Intervalle in den einzelnen Turns untersucht wurden (Überblick auf S. 66). Fast durchgängig zeigt sich, dass die Dauer der Episoden in den Turns von Mutter und Kind exakt dem Zeitmuster der GM folgen.
Obwohl auch die Forschungen zum Arbeitsgedächtnis ähnliche Zyklen aufweisen, hält Stern eine Identifizierung nicht für sinnvoll.

Stern vergleicht den GM mit einer Narration, die vorwiegend aus Gefühlen entsteht, die sich entfalten und bildet „somit eine Art nicht erzählter emotionaler Narration“(71). Mit Bezug auf Bruner postuliert er dass der menschliche Geist schon im präverbalen Stadium des Kleinkindes die Welt intentional analysiert und wahrnimmt. „Das narrative Format ist so angelegt, dass es Bedeutungen an Intentionen knüpft(es gibt emotionale wie auch kognitive Bedeutungen).“ (71/72) Geschichten haben dramatische Spannungsbogen, Plots mit den Elementen: Wer?, Wann? Warum? Was? Wie? Wo? Dieser dramatische Spannungsbogen, der  im Hier und Jetzt stattfindet und intentional gerichtet ist, wird durch die Vitalitätsaffekte konturiert. Sie haben eine Zeitgestalt, eine Intensitätskontur, einen Rhythmus. Z.B. kann Freude oder Lächeln auf ganz unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht werden. Vitalitätsaffekte sind nach Stern „konturierte Gefühle“: „Mit dem Begriff Zeitkontur bezeichne ich die in der Zeit (selbst in kürzesten Zeiträumen) stattfindenden objektiven Veränderungen (und seien sie noch so geringfügig) der Intensität oder Qualität der (inneren oder äußeren) Stimulation. Mit dem Begriff Vitalitätsaffekt bezeichne ich die subjektiv erlebten Veränderungen innerer Gefühlszustände, die mit der Zeitkontur des Stimulus einhergehen.“ (79, Herv. i. O.) Die Adjektive oder Verben, mit denen man sie beschreiben könnte lauten z.B. aufwallen, verblassend, flüchtig, explosiv, zögerlich, nachdrücklich, beschleunigend, verlangsamend u.ä. Sie können auch in Verbindung mit kategorialen Affekten auftreten, z.B. ein aufwallender Ärger,  eine  aufwallende Freude, müssen aber nicht damit in Verbindung stehen.  „Die Vitalitätsaffekte  spiegeln die Art und Weise wider, wie ein Akt durchgeführt wird, und reflektieren das zugrundeliegende Gefühl, das der Durchführung ihre endgültige Form verleiht.“ (80)

Unklar ist, wie das Nervensystem die zeitliche Kontur in die Vitalitätsaffekte transferiert, Stern führt verschiedene Hypothesen an, u.a. auch die Spiegelneuronen oder isomorphe Prozesse zwischen Stimulusintensität und Gefühl (z.B. anschwellendes Geräusch und Angst).


Die Kontextualisierung des GM


Obwohl der GM, wie er bisher beschrieben wurde ein individuelles subjektives Erleben darstellt, steht für Stern fest, dass er sich vor allem im intersubjektiven Kontakt entwickelt, dass es also vor allem um den Kontext ankommt, in dem das Gefühl entsteht. Dies macht klar, warum die Theorie der Spiegelneuronen natürlich eine primäre Bezugstheorie für diejenigen GMs relevant ist, für die sich Stern vor allem interessiert: die zwischenmenschlichen GM, in denen wir mit anderen Personen in Kontakt treten, in der Alltagskommunikation und für ihn vor allem in der psychotherapeutischen Kommunikation zwischen Therapeut und Klient, und in seinem Spezialfall der Psychotherapie: zwischen Mutter und Kind, womit wir wieder bei unserem Thema wären: Intention-reading. Stern verbindet das mit einem nachdrücklichen Appell für eine „Zwei-Personen-Psychologie“, die er allerdings um den Begriff der intersubjektiven Matrix erweitert.

„Wir haben die Intersubjektivität traditionell eher als eine Art Epiphänomen konzeptualisiert, das gelegentlich in Erscheinung tritt, wenn zwei getrennte und eigenständige Psychen interagieren. Heute betrachten wir die intersubjektive Matrix (die ein spezielles Subset der Kultur und der Psychotherapie darstellt) als den wichtigsten Schmelzofen, in dem interagierende Psychen ihre Gestalt annehmen.

Zwei Psychen erzeugen Intersubjektivität. Doch ebenso werden die beiden Psychen von der Intersubjektivität geformt. Das Zentrum der Schwerkraft hat sich vom Intrapsychischen auf das Interpsychische verlagert.“

Dieses Zitat erscheint mir insbesondere im Hinblick auf die Vygotskijsche Position des Entwicklungsprozesses vom Sozialen zum Individuellen, bzw. von außen nach innen interessant.  Zudem ist der Hinweis auf das „Subset der Kultur“ ein wichtiger Verweis auf die kulturelle Einbettung der intersubjektiven Matrix, sowohl in der Bourdieuschen Doxa-Tradition als auch in der Wittgensteinschen Sprachspiel-Tradition.

Als Belege für die intersubj. Matrix (IM) verweist Stern auf:
  • die Erkenntnisse in Verbindung mit den Spiegelneuronen
  • Belege aus der Entwicklungspsychologie: Beebe, Knoblauch, Rustin & Sorter 2002, die die Ansätze von Trevarthen (primäre Intersubjektivität), Meltzoff (frühe Nachahmungen)und D. Stern (Affektabstimmung) miteinander verglichen haben (vgl. auch Beebe & Lachmann 2004 auf deutsch); Jaffe et al. (2001): bi-direktionale Koordination der Vokalisierung, d.h. Erfassung des Timings des Partners; Gergely & Watson (1999): Kontingenzentdeckungsmodul mit dem Säuglinge das Verhalten mit anderen synchronisieren; die frühe Erfassung von Intentionen (Meltzoff & Moore 1999, Gergely & Csibra 1997); alter-zentrierte Partizipation (Bråten 1998); Theory of Mind-Debatte, in der das Kleinkind lernt, den Anderen und dessen Intentionen zu lesen bzw. zu verstehen
  • Klinisch Befunde: Autisten scheinen außerhalt der intersubjektiven Matrix zu leben. Imitation der Bewegungen der Mutter aus dem eigenen Blickwinkel, nicht aus dem Blickwinkel der Mutter (z.B. mit erhobenen Händen dem Anderen gegenüber, vgl. Bråten 1998 b).
  • Phänomenologie in der modernen Philosophie (nach Husserl, z.B. Clark, Damasio, Thompson, Varela, Zahavi), die von einer „verkörperten Kognition ausgeht, in der die Psyche „von Natur aus intersubjektiv offen ist, da sie partiell durch ihre Interaktion mit anderen Psychen konstituiert wird“ (107).

Stern hält Intersubjektivität für ein basales, primäres, angeborenes und universales Motivationssystem, also nicht ein Zustand, der erst im Rahmen anderer Motivationssysteme zum Tragen kommt. Sie leistet drei Beiträge zur Sicherung des Überlebens: „Sie fördert die Gruppenbildung, stärkt das Funktionieren der Gruppe und gewährleistet den Gruppenzusammenhalt, indem sie eine Moral entstehen lässt.“ (110).

Interessant ist seine Formulierung der Beziehung zwischen Bindung und Intersubjektivität. Obwohl ganz offensichtlich ein ziemlich enger Zusammenhang zwischen beiden besteht, legt Stern Wert auf eine Unterscheidung. Er  begründet das folgendermaßen:

Er benennt mehrere Faktoren, die zur Gruppenbildung führen und sie aufrechterhalten: Bindung, sexuelle Anziehung, Dominanzhierarchien, Liebe, Soziabilität und eben auch Intersubjektivität. Die Kategorie ist sowohl auf Gruppen wie auf Dyaden anwendbar, wichtig erscheint mir aber der Hinweis auf die frühen triadischen Prozesse der „Dreiwege-Intersubjektivität“, die Fivaz-Depeursinge in Lausanne schon für die ersten Lebensmonate des Babys in der Familie und der Beziehung zwischen Vater und Mutter nachgewiesen hat. Schon dieser Aspekt könnte zur Unterscheidung in Bezug zur Bindungstheorie herangezogen werden, da Bindung sich erst gegen Ende des ersten Lebensjahrs deutlich manifestiert, und eher hierarchische Beziehungen in den einzelnen Bindungsqualitäten zu den Mitgliedern der Familie postuliert (obwohl das schlecht untersucht ist, da es meines Wissens keine bindungstheoretischen Studien gibt, in denen Vater und Mutter gleichzeitig zugegen sind, wie dies von Fivaz et al. gemacht wurde).
Sterns Motivationsdimension Intersubjektivität hat zwei Pole: auf der einen Seite „kosmische Einsamkeit“, auf der anderen „mentale Transparenz, Verschmelzung und Verschwinden des Selbst.“ Er grenzt sie aber auch ab von physischer oder sexueller Anziehung, von Bindung und von Abhängigkeit. Die Bindungskategorie unterscheidet er von der Intersubjektivität und sieht erstere als Ergänzung letzterer. Das Bindungssystem regelt Nähe/Sicherheit bzw. Distanz/Exploration. Psychische Intimität fällt indes nicht in seinen Bereich. Viele Menschen, die >fest< gebunden sind, teilen keine psychische Nähe oder Intimität (sie ist in Wirklichkeit sogar das Gegenteil). Psychische Nähe wird durch das System der Intersubjektivität ermöglicht.“ (113)

Anmerkung: Warum Stern B. als das Gegenteil von Inters. sieht, habe ich nicht ganz verstanden, evtl. hat es was mit Sexualität zu tun, die in der intersubj, Matrix möglich im B-System eher ausgeschlossen ist.

Ein zentrales Argument der Unterscheidung ist bei Stern die Situation bei Autisten, bei denen es Bindung nicht jedoch Intersubjektivität gibt. Nach Stern schafft die Intersubjektivität die Bedingungen, die der Entwicklung von Bindungen förderlich sind. Wenn das so wäre, würde das Beispiel der Autisten nicht passen, denn hier entwickelt sich ja Bindung nur durch eine einseitige Intersubjektivität von Seiten der Bezugspersonen, wenn man das so formulieren kann (Intersubjektivität ohne Subjekt ist ja eigentlich nicht möglich).

Theoretisch und klinisch hält Stern die Unterscheidung für wichtig:
„Menschen können ohne intersubjektive Intimität aneinander gebunden sein; andererseits können sie intersubjektive Vertrautheit miteinander erleben, ohne aneinander gebunden zu sein. Und des weiteren gibt es auch Bindung bei gleichzeitiger intersubjektiver Nähe bzw. Bindungslosigkeit bei gleichzeitiger intersubjektiver Distanz. Eine wirklich erfüllte Verbindung zwischen Menschen setzt Bindung und Intersubjektivität plus Liebe voraus. In der klinischen Situation ist die Intersubjektivität unverzichtbar, während der Bindung und der Liebe ein weniger hoher Stellenwert zukommt. Gleichwohl entwickelt sich zumeist eine Mixtur aus allen drei Elementen in unterschiedlichen Proportionen.“ (113)

Stern stellt fest, dass sich beide Systeme wechselseitig unterstützen und beide Gruppenzusammenhalt unterstützen, dass sie aber unabhängig voneinander sind.
Wichtig ist noch der Hinweis, dass in manchen Kulturen die intersubjektive Matrix viel mächtiger oder bedeutsamer ist als die persönliche, einzigartige und autonome Psyche, die es vorwiegend in de Industrieländern gibt. Verstoßung aus der Gruppe oder soziale Marginalisierung kann sich dabei gravierend auswirken (von Stern nicht berichtet, doch von Ethnologen sehr wohl: Verstoß als Todesurteil ohne Henker).

Die Frage nach dem Vordringlichkeitswert (Gefühl nach Dringlichkeit eines Ziels, Befriedigung und Wohlbefinden nach Erreichen u.ä.) des Motivs Intersubjektivität beantwortet Stern ganz eindeutig: Ja, es handelt sich um ein außerordentlich wichtiges menschliches Motiv, das in vielen, wenn nicht in allen sozialen Situationen zuerst geklärt werden muss: „Wo stehe ich? Was ist im Gange? Wo bin ich? Wie muss oder kann ich mich in der Gruppe verorten? Wie bin ich akzeptiert?“ Negative Antworten auf solche Fragen erzeugen Angst.

Dieses Motiv konstituiert auch die Definition, Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Selbstidentität und Selbstkohärenz. „Wir sind auf den Blick anderer Menschen angewiesen, um uns selbst Gestalt und Zusammenhalt geben zu können. Aus dieses Bedürfnis, vom Anderen beachtet zu werden, kann vordringlich sein.“ (118) Dieses Bedürfnis nach Selbstkohärenz in der sozialen Interaktion, die Frage, ob es ein „wahres Selbst“ oder ob es mehrere Selbste gibt, die Konstruktion eines imaginierten Gefährten, mit dem sich Kinder und Jugendliche mit ihrer eigenen Subjektivität in einer künstlichen Inter-Intra-Subjektivität befassen, sind Manifestationen eines starken, bedürfnisartigen Motivs nach Intersubjektivität. Als Spezialfall perfekt funktionierender Intersubjektivität skizziert Stern das Verhalten des Ineinander-Verliebtseins.

Der GM ist implizites Wissen (Stern spricht von „implicit knowing“), d.h. nicht-symbolisch, nonverbal, prozedural und unbewusst im Sinn von nicht bewusst reflektiert. Es enthält nicht nur körperbezogene, motorische Abläufe, sondern Affekte, Erwartungen, Aktivierungs- und Motivationsschwankungen, Denkstile, Bindungsmuster (Bowlbys Arbeitsmodelle). Stern zitiert zwei weitergehende Differenzierungen des impliziten Wissens:

  • W.Bucci (1997, 2001) Impl. Wissen besteht einerseits aus einem subsymbolischen, nonverbalen Kode, bestehend aus kontinuierlichen, analogen Erfahrungen (z.B. wie man ein Bild malt), andererseits aus einem symbolischen, nonverbalen Kode, bestehend aus nonverbalen Erfahrungen und Informationen wie der imagistischen Kenntnis des Gesichts eines bestimmten Menschen. Hinzu kommt dann der verbale Kode.
  • Alan Fogel (2001, 2003) Implizites Gedächtnis besteht aus zwei Typen: einem „regulatorischen impliziten Gedächtnis“, das es uns ermöglicht, unsere Reaktionen unbewusst auf die sensorischen, motorischen und affektiven Aspekte unserer physikalischen und sozialen Umwelt abzustimmen (z.B. bei Bindungsmustern), bei der Entstehung eines Kernselbst (nach D. Stern), eines primären Selbst (nach Damasio) und eines dialogischen Selbst (nach Fogel et al. 2002) oder eines objektiven Selbst (nach Rochat 1995), sowie bei der Bildung eines affektiven Selbst (nah Schore, 1994). Den zweiten Typ nennt er „partizipatorisches Gedächtnis“, das in spezifischen Kontexten aktiviert wird und implizite Erinnerungen wiederbelebt, z.B. Traumatische Erinnerungen, die aktuell wiederbelebt werden.

Stern ist der Meinung, dass nur ein kleiner Teil dieses impliziten Wissens verbalisiert wird und wohl auch verbalisiert werden kann, obwohl es im Prinzip verbalisiert werden könnte, wenn es notwendig wird oder wenn es keine psychischen Blockaden gibt.

Der Begriff des Unbewussten soll nach Stern dem „ ....  verdrängten Material vorbehalten bleiben, dem eine Abwehrschranke den Zugang ins Bewusstsein verwehrt“.(127)

Für die Psychotherapie stellt die Kategorie des impliziten Wissens, das kein unbewusstes Wissen ist, ein Problem dar, weil in der Therapiesituation unklar bleibt, wo implizites Wissen wirksam ist und wo Übertragungsprozesse stattfinden. Man kann nur von „Widerstand“ im psychoanalytischen Sinn sprechen, wo verdrängtes, dynamisches unbewusstes Material im Spiel ist, und das ist nur der kleinste Teil in der Mutter-Kind-Therapie.

Im 8. Kapitel entwirft Stern eine Terminologie zur Differenzierung der verschiedenen „Bewusstseinstypen“ im Spannungsfeld zwischen  Bewusstem und Nicht-Bewusstem, Implizitem und Explizitem. Sein neuer Begriff dabei ist der Begriff „intersubjektives Bewusstsein,“ Ziel ist die Klärung des Bewusstseinsbegriffs für die psychotherapeutische Situation im dritten Teil des Buchs.

„Wenn zwei Menschen in einem gemeinsamen Gegenwartsmoment zusammen eine intersubjektive Erfahrung erzeugen, überschneiden sich das phänomenale Bewusstsein des einen Beteiligten mit dem phänomenalen Bewusstsein des anderen und schließt es partiell mit ein. Sie haben Ihre eigene Erfahrung und hinzu kommt die Erfahrung des anderen – das heißt die Art und Weise, wie er Sie erlebt - , die Sie seinen Augen, seiner Körperhaltung, seinem Tonfall usw. ablesen können. Das, was Sie selbst erleben, und das, was der Andere erlebt, muss nicht genau dasselbe sein, denn diese Erfahrungen haben einen unterschiedlichen Ursprung und eine unterschiedliche Orientierung. Sie können ein wenig unterschiedlich gefärbt und geformt sein und sich unterschiedliche anfühlen. Aber sie sind einander so ähnlich, dass ihre wechselseitige Validierung das >Bewusstsein< weckt, dieselbe mentale Landschaft zu bewohnen Ebendies ist intersubjektives Bewusstsein.“ (135, Herv. i.O.)

Tronick (1998) verwendet den Begriff „erweitertes dyadisches Bewusstsein“ für die Therapeut-Klient-Beziehung. Ich finde den Begriff besser. Stern merkt an, dass mit diesem Begriff nicht klar wäre, was bewusst wird und was nicht, so dass man besser von potentiellem Bewusstsein reden könnte. Ich finde Tronicks Begriff aber klarer als die Bezeichnung Sterns, bei der es ebenso wenig klar ist, was denn hier bewusst würde, was also nur gewahr bleibt und was reflexiv ist. Denn auch im therapeutischen Dialog sind die Bedeutungen der verwendeten Wörter keineswegs geteilt, vermutlich eher im Gegenteil.

Im Folgenden schildert Stern die neurophysiologische Erklärung der Genese des Bewusstseins – hierbei ist unklar, ob Edelmann (1990), auf den er hier verweist, sich überhaupt mit der Unterscheidung von phänomenalem und reflexivem Bewusstsein befasst.  Bewusstsein entstünde dadurch, dass eine Neuronengruppe, die durch einen Stimulus aktiviert wird und die Information an eine weitere Neuronengruppe weitergibt, die dann einen Wahrnehmungsprozess organisiert, deren Ergebnis in eine Reentry-Schleife an die erste Neuronengruppe zurückmeldet. Dieser Prozess der wechselweisen Aktivierung und Rückkoppelung kann sich vervielfachen, wodurch die Erfahrung mehrkanalig zur Verfügung steht, was dann angeblich den Bewusstwerdungsprozess bewirkt: verschiedene Schaltkreise befassen sich in einer multifocusierten Reiteration mit dem gleichen Phänomen.
Im dyadischen Prozess bei Stern kommen noch die diversen wechselseitigen Aufmerksamkeitsausrichtungen, Augenkontakte etc. hinzu, was Stern zu einem neuen Begriff seiner Meinung nach legitimiert. Aus der Tatsache, dass also der Prozess durch zwei untereschiedlich-gemeinsame Rückkoppelungsschleifen läuft, entsteht nach Stern ein Prozess „höherer Ordnung“: das intersubjektive Bewusstsein.
Leider kommt in der Argumentation die Unterscheidung zwischen phänomenalem und reflexivem Bewusstsein, die vorher gemacht wurde, unter die Räder. Ursprünglich dachte ich deshalb, dass Stern einen Unterschied zwischen dem einfachen Gewahrsein eines Wahrnehmungsaktes eines einzelnen Individuums und dem Gewahrsein beider Individuen in einem dyadischen Akt, in dem beide zusammen etwas wahrnehmen  oder tun, macht. Dass der Begriff intersubjektives Bewusstsein also eine Spielart des phänomenalen Bewusstseins bei zwei Personen sei. Das sagt er aber nicht, sondern er plädiert für ein „ein sozialeres Verständnis des Bewusstseins.“ (136)

Vermutlich meint er deshalb, dass er sich auch von der Interpretation Edelmanns lösen will und reflexives Bewusstsein beim Menschen als sozialen Prozess konstruiert. Das sagt er so aber nicht deutlich.

In den folgenden Ausführungen zur Erläuterung dieses „sozialeren Verständnisses“ geht Stern deshalb über die vorher gemachte Unterscheidung zwischen phänomenalen und reflexivem Bewusstsein weg. Er vertritt eine „Theorie der sozialen Spiegel, dass reflexives Bewusstsein seinem Ursprung nach sozial ist und eine gemeinsame Erfahrungswelt und soziale Reflexivität voraussetzt.“(137) Er zitiert Autoren, wie z.B. Vygotskij , Mead, Bruner usw., die sich mit der Genese der Bedeutungen befassen, nicht mit der Genese des phänomenalen Bewusstseins.
Die Lösung des Rätsels kommt dann allerdings auf der nächsten Seite:

„Reflexives Bewusstsein kann erst auftauchen, sobald ein >Anderer< anwesend ist, um zu bezeugen, dass wir eine phänomenale Erfahrung haben – mit anderen Worten: um die Rolle des Homunkulus zu spielen, der im Theater des Geistes hockt. Das Reentry erfolgt über Ihre Wahrnehmung der Wahrnehmung die der Andere von Ihrer Wahrnehmung hat (die Erfahrung des Anderen wird intersubjektiv erfasst).
Der andere muss sich von dem Selbst, das die Erfahrung macht, unterscheiden.“ (138)

Hier wird also kurzer Hand eine kleine Theorie der Sprachevolution vorgestellt (habe ich in dieser Form auch schon mal irgendwo geschrieben).

Im Folgenden geht Stern darauf jedoch nicht ein, sondern entwickelt die These vom Teilen  des subjektiven Erlebens mi anderen Personen, für ihn natürlich zwischen Therapeut und Klient. In dem Zusammenhang wird auch wieder der Verweis auf die auch in der Interaktion feuernden Spiegelneuronen relevant, der die Position des überindividuellen Bewusstseinsaktes stützt.

Hauptbezugsautor des nächsten Abschnitts ist dann Zelazo (1996, 1999) und seine „levels of consciousness“, die Stern übernimmt. Er fragt, ob die uns bekannten und hinlänglich geschilderten Fähigkeiten zur gemeinsamen Aufmerksamkeitsausrichtung, Gesten etc. ab dem 9. Monat dem Säugling reflexiv bewusst sind. Eine gute Frage!

Nach Zelazo ist „consciousness-ness“ weniger offensichtlich, stattdessen spricht er von einer neuen Fähigkeit des Babys: Zelazo „bezeichnet die intrapsychische Rekursivität als entscheidenden Entwicklungssprung, der die notwendige Voraussetzungen dafür schafft, bewusst zu sein.“ (139) Dieser neurophysiologischen Erklärung schließt sich Stern nicht an:
„Wir haben eine These auf der phänomenalen Ebene formuliert. Im Alter von etwa neun bis zwölf Monaten finden Säuglinge Zugang zu einer sekundären Intersubjektivität (Stern 1985, Trevarthen & Hubley, 1978) Ich behaupte, dass die Fähigkeit des Kindes zur Intersubjektivität der entscheidende Sprung ist, der diese neuen Verhaltensweisen auftauchen lässt. Was Zelazo als rekursives oder reflexives Bewusstsein bezeichnet beginnt als intersubjektives Bewusstsein.“(139/40)

Dieses intersubjektive Bewusstsein taucht nur in relativ intensiven Interaktionen auf (z.B. in einer Therapie). Der Rest muss wörtlich zitiert werden:

„Die Beteiligten erzeugen gemeinsam eine Erfahrung; das phänomenale Bewusstsein der beiden Partner weist trotz der unterschiedlichen Orientierungszentren eine Übereinstimmung oder zumindest eine große Überlappung auf. Abgesehen davon, dass beide eine ähnliche phänomenale Erfahrung haben, besitzt auch jeder von ihnen ein direktes Gewahrsein der  Erfahrung des Anderen sowie ein Gewahrsein der Übereinstimmung dieser Erfahrung mit seinem eigenen Erleben. Damit dies funktionieren kann, muss auch die Selbst-Bewusstheit aktiv sein, denn sonst könnte es, was das Subjekt der phänomenalen Erfahrung betrifft, zu Verwechslungen kommen. Die zwei Erfahrungen sind notwendig. Weil dies ein wechselseitiger Prozess ist, wird die gemeinsam geteilte Erfahrung >öffentlich<. Eine Art sozialer Reflexivität mündet in intersubjektives Bewusstsein ein.“ (140)

Damit lösen sich die oben genannten Probleme und Fragen. Ein insgesamt zufriedenstellender Befund.

Der Dritte Teil des Buches (Kapitel 9-13, S. 144-231) befasst sich mit den klinischen Perspektiven des Gegenwartsmoments.

3 Kommentare:

Falk Seeger hat gesagt…

- am Ende ist mir nicht mehr ganz einsichtig, warum zu dem Fazit, dass aus sozialer Reflexivität intersubjektives Bewusstsein wird, der Bezug zum Gegenwartsmoment als erklärendem Konstrukt erforderlich ist

- es erscheint ja vielmehr so, dass die etwa bis zum Jahr 2000 vorliegenden Forschungen völlig ausgereicht hätten, um zu diesem Schluss zu kommen

- mich stört ganz enorm der Bezug zur Psychoanalyse: nicht will ich etwas gegen PsA hätte, sondern weil alles, was schließlich herauskommen soll, auf das Modell der psychoanalytischen oder therapeutischen Situation projiziert wird. In gewisser Weise geht es nicht so sehr um das Verständnis der Entwicklung des Kleinkindes, sondern darum die Ergebnisse der Kleinkindforschung dazu zu benutzen, um sich zu vergewissern, dass Patient und Therapeut einander grundsätzlich verstehen können – weil es trotz aller Hindernisse, die die psa Theorie beschreibt, intersubjektives Bewusstsein gibt. Dem kann man ja nur zustimmen, aber bei unserem Problem hilft es nach meinem Empfinden nicht viel weiter

- in gewisser Weise ist für mich auch die „Methode“ von Stern hier ein Rückschritt oder jedenfalls kein Fortschritt. „Methode“, damit meine ich so etwas wie das allgemeine Vorgehen, den Umgang mit den theoretischen Begriffe, die Ableitung usw. So etwa wie Holmes immer zu Watson sagt: „You know my method, Watson!“ Das grundsätzliche Problem, vor das sich nicht erst Stern gestellt sieht, ist die Frage, wie sich auch Einfachem Komplexes, aus Basalem Höheres entwickeln kann. Mir scheint Stern das Modell der „und-Summativität“ zur verfolgen: Höheres in der Entwicklung ergibt sich aus der Summierung von Einfachem plus einer Art Einsicht oder Sparsamkeitsforderung, dass das Ganze mit einer höheren, einfacheren Prinzip ja viel besser laufe. Die Widersprüchlichkeit der Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen versucht er vollständig durch eine theoretische wasserdichte Ableitung der Begriffe – allerdings zu Begriffen wie „Selbst,“ „Alter,“ „Bewusstsein“ oder „implizites Wissen,“ die ihrerseits hochgradig theoretisch unterbestimmt sind

Unknown hat gesagt…

Ich assoziiere mal die Punkte, die mir einfallen:
- Der Bezug zur PsA scheint mir hier eher als ein kritischer zu fungieren, denn der Autor führt ja ein Unbewusstes ein, das ganz anderen als freudianischen Postulaten folgt. In seiner Position kann es ein Problem in der Interaktion geben, das nichts mit Verdrängung zu tun hat, also nichts mit Triebabfuhrverboten, sondern das aus fehlender Passung oder aus Inkonsistenzen resultiert. Ein anderer Aspekt einer psychoanalysekritischen oder PA modernisierenden Konzeption von Stern wurde von ihm ja schon in den früheren Arbeiten klar gemacht. Es ist die hegelianische Postulierung eines Bedürfnisses nach Anerkennung durch den Anderen, das ja in gewisser Weise gegen die Über-Ich-Idee der Notwendigkeit zur Unterwerfung unter gesellschaftliche Normen gelesen werden könnte – vielleicht aber auch nicht.
- Was mich schon bei den frühen Stern-Arbeiten fasziniert hat, ist die Konzeption der Vitalitätsaffekte. Sie beschreiben eine emotionale Dimension, die unmittelbar an die Ausführung einer zielgerichteten Aktivität geknüpft ist, die also ganz im Sinne einer von einem (unbewussten) Motiv geleiteten Handlungsausführung mit unbewusste Operationen (im Leontjewschen Sinn) interpretiert werden kann. Dabei wir zum einen die emotionale Dimension in der Dynamik der Ausführung sichtbar (und damit auch ihre Authentizität), gleichzeitig beinhaltet das Modell eine interaktive Dimension, die komplexer ist als die tätigkeitstheoretische. Denn die Operationsdynamik, die in einer dyadischen Situation beschrieben wird, spiegelt und/oder beeinflusst unmittelbar die psychische Befindlichkeit des Partners (hier: des Babys). Mit der Einführung eines nichtreflexiven Bewusstseinsbegriffs (das Gewahrsein, das in leicht irritierten Automatismen aufblitzt, der eine affektive Komponente hat (so die GM-Definition) und der im Großen und Ganzen der aktuellen Bewusstseinsdefinition in der modernen analytischen Philosophie entspricht (aber etwas mehr psychologisch konstruiert ist, als das, was ich kenne) kann ich viel anfangen. Hier hat mir also die Koppelung von Bewusstheit und Emotionalität gefallen, die über eine bloß kognitive Fassung hinausgeht. Das fand ich auch relativ gut anschlussfähig an die Polyvagaltheorie, die ja primär auf emotionale Prozesse verweist. Dieser emotionale Aspekt erweitert oder bereichert m.E. auch die Spiegelneuronentheorie , die mir in ihrer Aktivitätszentriertheit eher kognitionslastig ist. Das soll keine Kritik am Konzept der Spiegelneuronen sein.
- Wie man vom nachträglichen lauten Denken über Mini-Episoden, wie sie im Frühstücksinterview beschrieben werden, zu einer komplexeren Handlungs- und Motivationskonzeption und zu den Interaktionsprozessen kommt, wie sie für das intersubjektive Bewusstsein charakteristisch sind, ist mir nicht klar. Der Verdacht der Aufsummierung liegt hier natürlich nahe. Was mir aber einleuchtet, ist die Konstruktion einer dyadischen Interaktionsgeschichte, in der gemeinsame Routinen durch wechselseitiges emotionales Engagement aufgebaut werden. Die Antizipation dieser – nennen wir sie mal sozio-emotionale Schemata – im Alltagshandeln und der dabei stattfindende Wechsel zwischen Bekanntem und Neuem in einem dynamisch rhythmisierten Interaktionsgeschehen, erscheint mir interessant.
- Letztlich hat mich die Differenzierung des Bewusstseinsbegriffs am meisten interessiert. Dass dabei auch noch eine angedeutete Entwicklung zur Genese der sprachlichen oder zeichenvermittelten Kommunikation drinsteckt, wie sich im 8. Kapitel andeutet, finde ich persönlich für mich am interessantesten. Ob ich dazu die GM-Konstruktion wirklich brauche, müssen wir ernsthaft diskutieren. Es ist aber in jedem Fall eine Erlebniskategorie, für die Stern sehr viele Anknüpfungspunkte konstruiert (Selbstbewusstsein, Unbewusstes), die man prüfen muss.
- Für mich war auch die Unterscheidung zwischen Bindungstheorie und Intersubjektivität, bzw. die Trias „Bindung-Intersubjektivität-Liebe“ interessant.

Falk Seeger hat gesagt…

Was Du zur Bedeutung des Begriffs der Vitalitätsaffekte schreibst leuchtet mmir sehr ein - vor allem auch was die Anschlussfähigkeit an die Polyvagal Theorie und die Spiegelneuronen-Konzeption. Findest Du auch Anschließbarkeit in Bezug auf das "Erleben" als UoA bei Vyg.? Exakt das, was Du als Faszinosum der Vitalitätseffekte beschreibst, habe ich nämlich in Bezug auf diesen Versuch Vygs empfunden, das Erleben zum zentralen Punkt zu machen.