Frankfurt: Brandes & Apsel 2014, 4. Auflage; Original 2004, deutsche Übersetzung 2005
(Eine leicht kommentierte Zusammenfassung der ersten 8 Kapitel, S. 12-141 des gleichnamigen Buches von M. Hildebrand-Nilshon, April 2015)
Beim Gegenwartsmoment (GM)
geht es um subjektives Erleben, insbesondere um subjektive Erfahrungen, die einerseits
den kontinuierlichen Verhaltensstrom konstituieren und dabei andererseits – im
Gegensatz zu bloßen Automatismen - Veränderungen beinhalten (oder
herbeiführen), die gewahr werden. Nach Stern ist der GM die Prozesseinheit der
subjektiven, gewahr werdenden Erfahrungen, sozusagen die kleinste Einheit des
Erlebens, in der „die gelebte Mikrowelt“ (15) ins Bewusstsein gelangt, wobei
Stern zwischen Gewahrsein und verbalisiertem Gewahrsein oder
verbalisierbarem Gewahrsein
unterscheidet, es handelt sich also um implizites Wissen, das erst im Nachhinein
verbalisiert wird, im Rahmen von Reflexionsprozessen über das gerade oder vor
einiger Zeit Erlebte.
Sein Beispiel: Das
Frühstücksinterview, in dem sich der Interviewte an das Geschehen und die
Erlebnisse des morgendlichen Frühstücks erinnern soll und diese Erinnerungen
dann gegenüber dem Interviewer verbalisiert: wie er z.B. die knarzende
Kühlschranktür geöffnet hat, wie er feststellte, dass keine Butter da ist etc.
Der GM stellt „ eine
kurze, emotionale >gelebte Geschichte< dar“ (16), für die Stern auch den
Begriff „Kairos“ verwendet (den günstigen Moment; den Moment, in dem etwas
Neues auftaucht). Im GM passiert etwas, was diesem Moment „Bedeutung verleiht“.
In den Frühstücksinterviews ist das zumeist ein Hindernis beim routinierten
Ablauf – z.B. keine Butter im Kühlschrank – oder ein positives Ereignis, in
jedem Fall also etwas mit „emotionaler Ladung“. Während der Kairos-Begriff eher
im Rahmen einer „Ein-Personen-Psychologie“ auftaucht und auch die
Frühstücksinterviews ja individuelle Reflexionsprozesse bezeichnen, legt Stern Wert auf eine
„Zwei-Pesonen-Psychologie“.
Das klingt zunächst wie
eine willkürliche Setzung, hat seine Ursache jedoch in der Genese der
Arbeitsgruppe aus der Stern stammt: „Boston Change Process Study Group (Boston
CPSG: Nadia Bruschweiler-Stern, Jeremy Nahum, Louis Sander, Edward Tronick, die
auch das Buch „Veränderungsprozesse“ zusammen mit Stern herausgegeben haben).
Diese Arbeitsgruppe befasste sich mit Fragen der Psychotherapie und
Entwicklungspsychologie und insbesondere mit Veränderungsprozessen im Verlauf
einer therapeutischen Interaktion und zwischen Mutter und Baby.
Insofern ist der GM ein
Augenblick , in dem etwas „Affektives“ geschieht, das „von den Beteiligten
gemeinsam geteilt werden muss, damit eine Veränderung des implizit gefühlten
subjektiven Feldes stattfinden kann“ (17) – eben diese emotional gelebte
Geschichte. Dieses Affektive hat Stern in seinen früheren Arbeiten mit dem
Begriff „Vitalitätsaffekte“ bezeichnet, ein Begriff, den er im Zusammenhang mit
dem GM beibehält und ausbaut (Kap. 5, S. 78 ff). Die Vitalitätsaffekte erzeugen
„ eine dramatische Spannungslinie, die der Entfaltung des GM eine
Gefühlskohärenz verleiht Die Vitalitätsaffekte dienen quasi als zeitliches
Rückgrat des Plots.“ (85).
Im GM wird „psychische
Arbeit geleistet“ (16): der Erlebnisstrom muss zu Einheiten organisiert werden
(„chunking“) und diesen Einheiten muss während des Prozesses irgendeine Art von
Bedeutung verliehen werden, und zwar im Rahmen dieses affektiven
Spannungsbogens, als Positives, Negatives, Neues.
Die zeitliche Spanne des
GM beträgt zwischen 3 und 10 Sekunden und wird trotz ihrer unterschiedlichen
Bestandteile als Einheit erlebt. Stern bezieht sich auf Husserls und Varelas
Dreiteilung: Jetztpunkt – einem vergangenen GM – einem künftigen GM. Der
vergangene (bei Husserl „Retention“) ist die unmittelbare Vergangenheit, die im
aktuellen GM nachklingt, sie ist nicht aus dem Gewahrsein verdrängt, ist aber
etwas anderes als das Arbeitsgedächtnis, das kurzzeitig außerhalb des
Gewahrseins sein kann. Der zukünftige GM
(bei Husserl „Protention“) ist ebenfalls Teil des Erlebens, da die Erwartung im
Jetzt richtungsweisend wirkt „und mitunter auch eine Vorstellung dessen
vermittelt, was sich entfalten wird“ (46).
Die Dauer des GM
vergleicht Stern mit der Wahrnehmung einer Phrase in der Musik.
Neben Husserl verweist
Stern auch auf William Stern (psychische Präsenzzeit), auf Koffka (aktuelle Gegenwart), auf Fraisse
(wahrgenommene oder psychische Gegenwart) und Merleau-Ponty . Folgende 11 Merkmale eines „klinisch relevanten GM“ führt
Stern auf:
- Gewahrsein oder Bewusstsein
- GM ist nicht die geschilderte Erfahrung, sondern die ursprünglich erlebte und gefühlte.
- Der Inhalt des GM entsteht in der Zusammenarbeit zwischen Psyche und Körper, ist unmittelbares Erleben, nicht das im Nachhinein in Worten oder Bildern Festgehaltene.
- Die Zeitspanne
ist kurz (wenn man von 21 bi 24 zählt). „Für gewöhnlich aber sind uns diese
Erfahrungen in dem Moment, in dem sie sich vollziehen, nicht bewusst; wir
nehmen sie vielmehr erst dann bewusst wahr, wenn sie uns aus diesem oder jenem
Grund mehrere Sekunden lang gewärtig bleiben.“(52)
Zitat von S. 60 mit Bezug zur Polyvagaltheorie: „Die zeitliche Begrenzung der GMs auf etwa 10 Sekunden bedeutet nicht dass es keine größeren aus mehreren GMs gebündelten Zeiteinheiten gäbe. Sie finden sich in der Musik, aber auch in anderen Kontexten. Trevarthen (1999/2000) hat eine größere Einheit von etwa 30 Sekunden Dauer postuliert, die mit Erregungszyklen des vegetativen Nervensystems assoziiert ist. Ich habe den Eindruck, dass diese größeren Einheiten in der Regel aus Varianten mehrerer aufeinanderfolgender GMs bestehen, die das Erleben vertiefen oder erweitern.“ - Der GM hat eine psychische Funktion: Eine Erfahrung muss genügend neu oder problematisch sein, um ins Bewusstsein zu gelangen und ein GM werden zu können. Die Funktion ist die Leistung psychischer Aktivität im Sinner der Intentionalität des Handelns. Stern sagt, der GM verbinde kleinste Vorgänge zu kohärenten Einheiten. Meine Frage dazu: die Bildung kohärenter Einheiten als Konstruktionsprinzip ist m. E. etwas Anderes als die Suche nach Neuem oder Problemlösen, denn da scheint ja zunächst etwas inkohärent zu sein? Oder umfasst der Kohärenzbegriff auch Probleme bei der Zielerreichung?
- GMs sind holistische Geschehnisse, als Gestalt organisiert.
- GMs sind zeitlich dynamisch und diese dynamischen Gestalten werden als Vitalitätsaffekte bezeichnet: Erregungs- und Erwartungsanstieg sind verbunden mit Bewegungen, Muskelspannung, Körperhaltung, Fluktuationen des Interesses, der Intentionalität. Meine Frage dazu: Hier besteht u.U. eine Verbindung zur Polyvagaltheorie von Porges (hier insbesondere die Ausführungen auf S. 54-56).
- „Der GM ist, während er sich entfaltet, teilweise nicht vorhersagbar.
- Der GM setzt ein Selbstgefühl voraus. Sie sind die einzige Person, der ihre subjektiven Erfahrungen zuteil werden .... „Sie wissen, dass Sie selbst diese Erfahrungen machen Die Erfahrung gehört nicht einfach zu Ihnen, sie ist Sie.“(56, Hervorhebung im Original).
- Das erlebende Selbst nimmt eine Haltung gegenüber dem GM ein. Es gibt Unterschiede im Grad der inneren Beteiligung, der emotionalen Besetzung, der Bewertung der gerade laufenden Erfahrung. Man hat eher mehr Distanz oder mehr Nähe zur aktuellen Erfahrung.
- Unterschiedliche GMs sind von unterschiedlich hoher Bedeutung. Es gibt „große Augenblicke“ , entscheidende Momente, Moment der Wahrheit etc. oder eben auch ganz alltägliche, banale GMs: keine Butter im Kühlschrank
Aus der
Mutter-Kind-Interaktionsforschung gibt es zahlreiche detaillierte Befunde, aus
denen die Intervalle in den einzelnen Turns untersucht wurden (Überblick auf S.
66). Fast durchgängig zeigt sich, dass die Dauer der Episoden in den Turns von
Mutter und Kind exakt dem Zeitmuster der GM folgen.
Obwohl auch die
Forschungen zum Arbeitsgedächtnis ähnliche Zyklen aufweisen, hält Stern eine
Identifizierung nicht für sinnvoll.
Stern vergleicht den GM
mit einer Narration, die vorwiegend aus Gefühlen entsteht, die sich entfalten
und bildet „somit eine Art nicht erzählter emotionaler Narration“(71). Mit
Bezug auf Bruner postuliert er dass der menschliche Geist schon im präverbalen
Stadium des Kleinkindes die Welt intentional analysiert und wahrnimmt. „Das
narrative Format ist so angelegt, dass es Bedeutungen an Intentionen knüpft(es
gibt emotionale wie auch kognitive Bedeutungen).“ (71/72) Geschichten haben
dramatische Spannungsbogen, Plots mit den Elementen: Wer?, Wann? Warum? Was?
Wie? Wo? Dieser dramatische Spannungsbogen, der
im Hier und Jetzt stattfindet und intentional gerichtet ist, wird durch
die Vitalitätsaffekte konturiert. Sie haben eine Zeitgestalt, eine
Intensitätskontur, einen Rhythmus. Z.B. kann Freude oder Lächeln auf ganz
unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht werden. Vitalitätsaffekte sind nach
Stern „konturierte Gefühle“: „Mit dem Begriff Zeitkontur bezeichne ich die in der Zeit (selbst in kürzesten
Zeiträumen) stattfindenden objektiven Veränderungen (und seien sie noch so
geringfügig) der Intensität oder Qualität der (inneren oder äußeren) Stimulation.
Mit dem Begriff Vitalitätsaffekt
bezeichne ich die subjektiv erlebten Veränderungen innerer Gefühlszustände, die
mit der Zeitkontur des Stimulus einhergehen.“ (79, Herv. i. O.) Die Adjektive oder
Verben, mit denen man sie beschreiben könnte lauten z.B. aufwallen,
verblassend, flüchtig, explosiv, zögerlich, nachdrücklich, beschleunigend,
verlangsamend u.ä. Sie können auch in Verbindung mit kategorialen Affekten
auftreten, z.B. ein aufwallender Ärger,
eine aufwallende Freude, müssen
aber nicht damit in Verbindung stehen.
„Die Vitalitätsaffekte spiegeln
die Art und Weise wider, wie ein Akt durchgeführt wird, und reflektieren das
zugrundeliegende Gefühl, das der Durchführung ihre endgültige Form verleiht.“
(80)
Unklar ist, wie das
Nervensystem die zeitliche Kontur in die Vitalitätsaffekte transferiert, Stern
führt verschiedene Hypothesen an, u.a. auch die Spiegelneuronen oder isomorphe
Prozesse zwischen Stimulusintensität und Gefühl (z.B. anschwellendes Geräusch
und Angst).
Die Kontextualisierung des GM
Obwohl der GM, wie er
bisher beschrieben wurde ein individuelles subjektives Erleben darstellt, steht
für Stern fest, dass er sich vor allem im intersubjektiven Kontakt entwickelt,
dass es also vor allem um den Kontext ankommt, in dem das Gefühl entsteht. Dies
macht klar, warum die Theorie der Spiegelneuronen natürlich eine primäre
Bezugstheorie für diejenigen GMs relevant ist, für die sich Stern vor allem
interessiert: die zwischenmenschlichen GM, in denen wir mit anderen Personen in
Kontakt treten, in der Alltagskommunikation und für ihn vor allem in der
psychotherapeutischen Kommunikation zwischen Therapeut und Klient, und in
seinem Spezialfall der Psychotherapie: zwischen Mutter und Kind, womit wir
wieder bei unserem Thema wären: Intention-reading. Stern verbindet das mit
einem nachdrücklichen Appell für eine „Zwei-Personen-Psychologie“, die er
allerdings um den Begriff der intersubjektiven Matrix erweitert.
„Wir
haben die Intersubjektivität traditionell eher als eine Art Epiphänomen
konzeptualisiert, das gelegentlich in Erscheinung tritt, wenn zwei getrennte
und eigenständige Psychen interagieren. Heute betrachten wir die
intersubjektive Matrix (die ein spezielles Subset der Kultur und der Psychotherapie
darstellt) als den wichtigsten Schmelzofen, in dem interagierende Psychen ihre
Gestalt annehmen.
Zwei
Psychen erzeugen Intersubjektivität. Doch ebenso werden die beiden Psychen von
der Intersubjektivität geformt. Das Zentrum der Schwerkraft hat sich vom Intrapsychischen
auf das Interpsychische verlagert.“
Dieses Zitat erscheint mir
insbesondere im Hinblick auf die Vygotskijsche Position des
Entwicklungsprozesses vom Sozialen zum Individuellen, bzw. von außen nach innen
interessant. Zudem ist der Hinweis auf
das „Subset der Kultur“ ein wichtiger Verweis auf die kulturelle Einbettung der
intersubjektiven Matrix, sowohl in der Bourdieuschen Doxa-Tradition als auch in
der Wittgensteinschen Sprachspiel-Tradition.
Als Belege für die
intersubj. Matrix (IM) verweist Stern auf:
- die Erkenntnisse in Verbindung mit den Spiegelneuronen
- Belege aus der Entwicklungspsychologie: Beebe, Knoblauch, Rustin & Sorter 2002, die die Ansätze von Trevarthen (primäre Intersubjektivität), Meltzoff (frühe Nachahmungen)und D. Stern (Affektabstimmung) miteinander verglichen haben (vgl. auch Beebe & Lachmann 2004 auf deutsch); Jaffe et al. (2001): bi-direktionale Koordination der Vokalisierung, d.h. Erfassung des Timings des Partners; Gergely & Watson (1999): Kontingenzentdeckungsmodul mit dem Säuglinge das Verhalten mit anderen synchronisieren; die frühe Erfassung von Intentionen (Meltzoff & Moore 1999, Gergely & Csibra 1997); alter-zentrierte Partizipation (Bråten 1998); Theory of Mind-Debatte, in der das Kleinkind lernt, den Anderen und dessen Intentionen zu lesen bzw. zu verstehen
- Klinisch Befunde: Autisten scheinen außerhalt der intersubjektiven Matrix zu leben. Imitation der Bewegungen der Mutter aus dem eigenen Blickwinkel, nicht aus dem Blickwinkel der Mutter (z.B. mit erhobenen Händen dem Anderen gegenüber, vgl. Bråten 1998 b).
- Phänomenologie in der modernen Philosophie (nach Husserl, z.B. Clark, Damasio, Thompson, Varela, Zahavi), die von einer „verkörperten Kognition ausgeht, in der die Psyche „von Natur aus intersubjektiv offen ist, da sie partiell durch ihre Interaktion mit anderen Psychen konstituiert wird“ (107).
Stern hält
Intersubjektivität für ein basales, primäres, angeborenes und universales
Motivationssystem, also nicht ein Zustand, der erst im Rahmen anderer
Motivationssysteme zum Tragen kommt. Sie leistet drei Beiträge zur Sicherung
des Überlebens: „Sie fördert die Gruppenbildung, stärkt das Funktionieren der
Gruppe und gewährleistet den Gruppenzusammenhalt, indem sie eine Moral
entstehen lässt.“ (110).
Interessant ist seine
Formulierung der Beziehung zwischen Bindung und Intersubjektivität. Obwohl ganz
offensichtlich ein ziemlich enger Zusammenhang zwischen beiden besteht, legt
Stern Wert auf eine Unterscheidung. Er begründet
das folgendermaßen:
Er benennt mehrere
Faktoren, die zur Gruppenbildung führen und sie aufrechterhalten: Bindung,
sexuelle Anziehung, Dominanzhierarchien, Liebe, Soziabilität und eben auch
Intersubjektivität. Die Kategorie ist sowohl auf Gruppen wie auf Dyaden
anwendbar, wichtig erscheint mir aber der Hinweis auf die frühen triadischen
Prozesse der „Dreiwege-Intersubjektivität“, die Fivaz-Depeursinge in Lausanne
schon für die ersten Lebensmonate des Babys in der Familie und der Beziehung
zwischen Vater und Mutter nachgewiesen hat. Schon dieser Aspekt könnte zur
Unterscheidung in Bezug zur Bindungstheorie herangezogen werden, da Bindung sich
erst gegen Ende des ersten Lebensjahrs deutlich manifestiert, und eher
hierarchische Beziehungen in den einzelnen Bindungsqualitäten zu den Mitgliedern
der Familie postuliert (obwohl das schlecht untersucht ist, da es meines
Wissens keine bindungstheoretischen Studien gibt, in denen Vater und Mutter
gleichzeitig zugegen sind, wie dies von Fivaz et al. gemacht wurde).
Sterns
Motivationsdimension Intersubjektivität hat zwei Pole: auf der einen Seite
„kosmische Einsamkeit“, auf der anderen „mentale Transparenz, Verschmelzung und
Verschwinden des Selbst.“ Er grenzt sie aber auch ab von physischer oder
sexueller Anziehung, von Bindung und von Abhängigkeit. Die Bindungskategorie
unterscheidet er von der Intersubjektivität und sieht erstere als Ergänzung
letzterer. Das Bindungssystem regelt Nähe/Sicherheit bzw. Distanz/Exploration.
Psychische Intimität fällt indes nicht in seinen Bereich. Viele Menschen, die
>fest< gebunden sind, teilen keine psychische Nähe oder Intimität (sie
ist in Wirklichkeit sogar das Gegenteil). Psychische Nähe wird durch das System
der Intersubjektivität ermöglicht.“ (113)
Anmerkung:
Warum Stern B. als das Gegenteil von Inters. sieht, habe ich nicht ganz
verstanden, evtl. hat es was mit Sexualität zu tun, die in der intersubj,
Matrix möglich im B-System eher ausgeschlossen ist.
Ein zentrales Argument der
Unterscheidung ist bei Stern die Situation bei Autisten, bei denen es Bindung
nicht jedoch Intersubjektivität gibt. Nach Stern schafft die Intersubjektivität
die Bedingungen, die der Entwicklung von Bindungen förderlich sind. Wenn das so
wäre, würde das Beispiel der Autisten nicht passen, denn hier entwickelt sich
ja Bindung nur durch eine einseitige Intersubjektivität von Seiten der
Bezugspersonen, wenn man das so formulieren kann (Intersubjektivität ohne
Subjekt ist ja eigentlich nicht möglich).
Theoretisch und klinisch
hält Stern die Unterscheidung für wichtig:
„Menschen können ohne
intersubjektive Intimität aneinander gebunden sein; andererseits können sie
intersubjektive Vertrautheit miteinander erleben, ohne aneinander gebunden zu
sein. Und des weiteren gibt es auch Bindung bei gleichzeitiger intersubjektiver
Nähe bzw. Bindungslosigkeit bei gleichzeitiger intersubjektiver Distanz. Eine
wirklich erfüllte Verbindung zwischen Menschen setzt Bindung und
Intersubjektivität plus Liebe voraus. In der klinischen Situation ist die
Intersubjektivität unverzichtbar, während der Bindung und der Liebe ein weniger
hoher Stellenwert zukommt. Gleichwohl entwickelt sich zumeist eine Mixtur aus
allen drei Elementen in unterschiedlichen Proportionen.“ (113)
Stern stellt fest, dass
sich beide Systeme wechselseitig unterstützen und beide Gruppenzusammenhalt
unterstützen, dass sie aber unabhängig voneinander sind.
Wichtig ist noch der
Hinweis, dass in manchen Kulturen die intersubjektive Matrix viel mächtiger
oder bedeutsamer ist als die persönliche, einzigartige und autonome Psyche, die
es vorwiegend in de Industrieländern gibt. Verstoßung aus der Gruppe oder
soziale Marginalisierung kann sich dabei gravierend auswirken (von Stern nicht
berichtet, doch von Ethnologen sehr wohl: Verstoß als Todesurteil ohne Henker).
Die Frage nach dem
Vordringlichkeitswert (Gefühl nach Dringlichkeit eines Ziels, Befriedigung und
Wohlbefinden nach Erreichen u.ä.) des Motivs Intersubjektivität beantwortet
Stern ganz eindeutig: Ja, es handelt sich um ein außerordentlich wichtiges
menschliches Motiv, das in vielen, wenn nicht in allen sozialen Situationen
zuerst geklärt werden muss: „Wo stehe ich? Was ist im Gange? Wo bin ich? Wie
muss oder kann ich mich in der Gruppe verorten? Wie bin ich akzeptiert?“
Negative Antworten auf solche Fragen erzeugen Angst.
Dieses Motiv konstituiert
auch die Definition, Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von
Selbstidentität und Selbstkohärenz. „Wir sind auf den Blick anderer Menschen
angewiesen, um uns selbst Gestalt und Zusammenhalt geben zu können. Aus dieses
Bedürfnis, vom Anderen beachtet zu werden, kann vordringlich sein.“ (118)
Dieses Bedürfnis nach Selbstkohärenz in der sozialen Interaktion, die Frage, ob
es ein „wahres Selbst“ oder ob es mehrere Selbste gibt, die Konstruktion eines
imaginierten Gefährten, mit dem sich Kinder und Jugendliche mit ihrer eigenen
Subjektivität in einer künstlichen Inter-Intra-Subjektivität befassen, sind
Manifestationen eines starken, bedürfnisartigen Motivs nach Intersubjektivität.
Als Spezialfall perfekt funktionierender Intersubjektivität skizziert Stern das
Verhalten des Ineinander-Verliebtseins.
Der GM ist implizites
Wissen (Stern spricht von „implicit knowing“), d.h. nicht-symbolisch,
nonverbal, prozedural und unbewusst im Sinn von nicht bewusst reflektiert. Es
enthält nicht nur körperbezogene, motorische Abläufe, sondern Affekte,
Erwartungen, Aktivierungs- und Motivationsschwankungen, Denkstile,
Bindungsmuster (Bowlbys Arbeitsmodelle). Stern zitiert zwei weitergehende
Differenzierungen des impliziten Wissens:
- W.Bucci (1997, 2001) Impl. Wissen besteht einerseits aus einem subsymbolischen, nonverbalen Kode, bestehend aus kontinuierlichen, analogen Erfahrungen (z.B. wie man ein Bild malt), andererseits aus einem symbolischen, nonverbalen Kode, bestehend aus nonverbalen Erfahrungen und Informationen wie der imagistischen Kenntnis des Gesichts eines bestimmten Menschen. Hinzu kommt dann der verbale Kode.
- Alan Fogel (2001, 2003) Implizites Gedächtnis besteht aus zwei Typen: einem „regulatorischen impliziten Gedächtnis“, das es uns ermöglicht, unsere Reaktionen unbewusst auf die sensorischen, motorischen und affektiven Aspekte unserer physikalischen und sozialen Umwelt abzustimmen (z.B. bei Bindungsmustern), bei der Entstehung eines Kernselbst (nach D. Stern), eines primären Selbst (nach Damasio) und eines dialogischen Selbst (nach Fogel et al. 2002) oder eines objektiven Selbst (nach Rochat 1995), sowie bei der Bildung eines affektiven Selbst (nah Schore, 1994). Den zweiten Typ nennt er „partizipatorisches Gedächtnis“, das in spezifischen Kontexten aktiviert wird und implizite Erinnerungen wiederbelebt, z.B. Traumatische Erinnerungen, die aktuell wiederbelebt werden.
Stern ist der Meinung,
dass nur ein kleiner Teil dieses impliziten Wissens verbalisiert wird und wohl
auch verbalisiert werden kann, obwohl es im Prinzip verbalisiert werden könnte,
wenn es notwendig wird oder wenn es keine psychischen Blockaden gibt.
Der Begriff des Unbewussten
soll nach Stern dem „ .... verdrängten Material
vorbehalten bleiben, dem eine Abwehrschranke den Zugang ins Bewusstsein
verwehrt“.(127)
Für die Psychotherapie
stellt die Kategorie des impliziten Wissens, das kein unbewusstes Wissen ist,
ein Problem dar, weil in der Therapiesituation unklar bleibt, wo implizites
Wissen wirksam ist und wo Übertragungsprozesse stattfinden. Man kann nur von
„Widerstand“ im psychoanalytischen Sinn sprechen, wo verdrängtes, dynamisches
unbewusstes Material im Spiel ist, und das ist nur der kleinste Teil in der
Mutter-Kind-Therapie.
Im 8. Kapitel entwirft
Stern eine Terminologie zur Differenzierung der verschiedenen
„Bewusstseinstypen“ im Spannungsfeld zwischen
Bewusstem und Nicht-Bewusstem, Implizitem und Explizitem. Sein neuer Begriff
dabei ist der Begriff „intersubjektives Bewusstsein,“ Ziel ist die Klärung des
Bewusstseinsbegriffs für die psychotherapeutische Situation im dritten Teil des
Buchs.
„Wenn zwei Menschen in
einem gemeinsamen Gegenwartsmoment zusammen eine intersubjektive Erfahrung
erzeugen, überschneiden sich das phänomenale Bewusstsein des einen Beteiligten
mit dem phänomenalen Bewusstsein des anderen und schließt es partiell mit ein.
Sie haben Ihre eigene Erfahrung und hinzu kommt die Erfahrung des anderen – das
heißt die Art und Weise, wie er Sie erlebt - , die Sie seinen Augen, seiner
Körperhaltung, seinem Tonfall usw. ablesen können. Das, was Sie selbst erleben,
und das, was der Andere erlebt, muss nicht genau dasselbe sein, denn diese
Erfahrungen haben einen unterschiedlichen Ursprung und eine unterschiedliche
Orientierung. Sie können ein wenig unterschiedlich gefärbt und geformt sein und
sich unterschiedliche anfühlen. Aber sie sind einander so ähnlich, dass ihre
wechselseitige Validierung das >Bewusstsein< weckt, dieselbe mentale
Landschaft zu bewohnen Ebendies ist intersubjektives
Bewusstsein.“ (135, Herv. i.O.)
Tronick (1998) verwendet
den Begriff „erweitertes dyadisches Bewusstsein“ für die Therapeut-Klient-Beziehung.
Ich finde den Begriff besser. Stern merkt an, dass mit diesem Begriff nicht
klar wäre, was bewusst wird und was nicht, so dass man besser von potentiellem Bewusstsein
reden könnte. Ich finde Tronicks Begriff aber klarer als die Bezeichnung
Sterns, bei der es ebenso wenig klar ist, was denn hier bewusst würde, was also
nur gewahr bleibt und was reflexiv ist. Denn auch im therapeutischen Dialog
sind die Bedeutungen der verwendeten Wörter keineswegs geteilt, vermutlich eher
im Gegenteil.
Im Folgenden schildert
Stern die neurophysiologische Erklärung der Genese des Bewusstseins – hierbei
ist unklar, ob Edelmann (1990), auf den er hier verweist, sich überhaupt mit
der Unterscheidung von phänomenalem und reflexivem Bewusstsein befasst. Bewusstsein entstünde dadurch, dass eine
Neuronengruppe, die durch einen Stimulus aktiviert wird und die Information an
eine weitere Neuronengruppe weitergibt, die dann einen Wahrnehmungsprozess
organisiert, deren Ergebnis in eine Reentry-Schleife an die erste
Neuronengruppe zurückmeldet. Dieser Prozess der wechselweisen Aktivierung und
Rückkoppelung kann sich vervielfachen, wodurch die Erfahrung mehrkanalig zur
Verfügung steht, was dann angeblich den Bewusstwerdungsprozess bewirkt:
verschiedene Schaltkreise befassen sich in einer multifocusierten Reiteration
mit dem gleichen Phänomen.
Im dyadischen Prozess bei
Stern kommen noch die diversen wechselseitigen Aufmerksamkeitsausrichtungen,
Augenkontakte etc. hinzu, was Stern zu einem neuen Begriff seiner Meinung nach
legitimiert. Aus der Tatsache, dass also der Prozess durch zwei
untereschiedlich-gemeinsame Rückkoppelungsschleifen läuft, entsteht nach Stern
ein Prozess „höherer Ordnung“: das intersubjektive Bewusstsein.
Leider kommt in der
Argumentation die Unterscheidung zwischen phänomenalem und reflexivem
Bewusstsein, die vorher gemacht wurde, unter die Räder. Ursprünglich dachte ich
deshalb, dass Stern einen Unterschied zwischen dem einfachen Gewahrsein eines
Wahrnehmungsaktes eines einzelnen Individuums und dem Gewahrsein beider
Individuen in einem dyadischen Akt, in dem beide zusammen etwas wahrnehmen oder tun, macht. Dass der Begriff
intersubjektives Bewusstsein also eine Spielart des phänomenalen Bewusstseins
bei zwei Personen sei. Das sagt er aber nicht, sondern er plädiert für ein „ein
sozialeres Verständnis des Bewusstseins.“ (136)
Vermutlich meint er
deshalb, dass er sich auch von der Interpretation Edelmanns lösen will und
reflexives Bewusstsein beim Menschen als sozialen Prozess konstruiert. Das sagt
er so aber nicht deutlich.
In den folgenden
Ausführungen zur Erläuterung dieses „sozialeren Verständnisses“ geht Stern deshalb
über die vorher gemachte Unterscheidung zwischen phänomenalen und reflexivem
Bewusstsein weg. Er vertritt eine „Theorie der sozialen Spiegel, dass
reflexives Bewusstsein seinem Ursprung nach sozial ist und eine gemeinsame
Erfahrungswelt und soziale Reflexivität voraussetzt.“(137) Er zitiert Autoren,
wie z.B. Vygotskij , Mead, Bruner usw., die sich mit der Genese der Bedeutungen
befassen, nicht mit der Genese des phänomenalen Bewusstseins.
Die Lösung des Rätsels kommt
dann allerdings auf der nächsten Seite:
„Reflexives Bewusstsein kann erst auftauchen, sobald ein
>Anderer< anwesend ist, um zu bezeugen, dass wir eine phänomenale
Erfahrung haben – mit anderen Worten: um die Rolle des Homunkulus zu spielen,
der im Theater des Geistes hockt. Das Reentry erfolgt über Ihre Wahrnehmung der
Wahrnehmung die der Andere von Ihrer Wahrnehmung hat (die Erfahrung des Anderen
wird intersubjektiv erfasst).
Der andere muss sich von dem Selbst, das die Erfahrung
macht, unterscheiden.“ (138)
Hier wird also kurzer Hand
eine kleine Theorie der Sprachevolution vorgestellt (habe ich in dieser Form
auch schon mal irgendwo geschrieben).
Im Folgenden geht Stern
darauf jedoch nicht ein, sondern entwickelt die These vom Teilen des subjektiven Erlebens mi anderen Personen,
für ihn natürlich zwischen Therapeut und Klient. In dem Zusammenhang wird auch
wieder der Verweis auf die auch in der Interaktion feuernden Spiegelneuronen
relevant, der die Position des überindividuellen Bewusstseinsaktes stützt.
Hauptbezugsautor des
nächsten Abschnitts ist dann Zelazo (1996, 1999) und seine „levels of
consciousness“, die Stern übernimmt. Er fragt, ob die uns bekannten und
hinlänglich geschilderten Fähigkeiten zur gemeinsamen Aufmerksamkeitsausrichtung,
Gesten etc. ab dem 9. Monat dem Säugling reflexiv bewusst sind. Eine gute
Frage!
Nach Zelazo ist
„consciousness-ness“ weniger offensichtlich, stattdessen spricht er von einer
neuen Fähigkeit des Babys: Zelazo „bezeichnet die intrapsychische Rekursivität
als entscheidenden Entwicklungssprung, der die notwendige Voraussetzungen dafür
schafft, bewusst zu sein.“ (139) Dieser neurophysiologischen Erklärung schließt
sich Stern nicht an:
„Wir haben eine These auf
der phänomenalen Ebene formuliert. Im Alter von etwa neun bis zwölf Monaten
finden Säuglinge Zugang zu einer sekundären Intersubjektivität (Stern 1985,
Trevarthen & Hubley, 1978) Ich behaupte, dass die Fähigkeit des Kindes zur
Intersubjektivität der entscheidende Sprung ist, der diese neuen
Verhaltensweisen auftauchen lässt. Was Zelazo als rekursives oder reflexives
Bewusstsein bezeichnet beginnt als intersubjektives Bewusstsein.“(139/40)
Dieses intersubjektive
Bewusstsein taucht nur in relativ intensiven Interaktionen auf (z.B. in einer
Therapie). Der Rest muss wörtlich zitiert werden:
„Die Beteiligten erzeugen
gemeinsam eine Erfahrung; das phänomenale Bewusstsein der beiden Partner weist
trotz der unterschiedlichen Orientierungszentren eine Übereinstimmung oder
zumindest eine große Überlappung auf. Abgesehen davon, dass beide eine ähnliche
phänomenale Erfahrung haben, besitzt auch jeder von ihnen ein direktes Gewahrsein
der Erfahrung des Anderen sowie ein
Gewahrsein der Übereinstimmung dieser Erfahrung mit seinem eigenen Erleben.
Damit dies funktionieren kann, muss auch die Selbst-Bewusstheit aktiv sein,
denn sonst könnte es, was das Subjekt der phänomenalen Erfahrung betrifft, zu Verwechslungen
kommen. Die zwei Erfahrungen sind notwendig. Weil dies ein wechselseitiger
Prozess ist, wird die gemeinsam geteilte Erfahrung >öffentlich<. Eine Art
sozialer Reflexivität mündet in intersubjektives Bewusstsein ein.“ (140)
Damit lösen sich die oben
genannten Probleme und Fragen. Ein insgesamt zufriedenstellender Befund.
Der Dritte Teil des Buches
(Kapitel 9-13, S. 144-231) befasst sich mit den klinischen Perspektiven des
Gegenwartsmoments.
3 Kommentare:
- am Ende ist mir nicht mehr ganz einsichtig, warum zu dem Fazit, dass aus sozialer Reflexivität intersubjektives Bewusstsein wird, der Bezug zum Gegenwartsmoment als erklärendem Konstrukt erforderlich ist
- es erscheint ja vielmehr so, dass die etwa bis zum Jahr 2000 vorliegenden Forschungen völlig ausgereicht hätten, um zu diesem Schluss zu kommen
- mich stört ganz enorm der Bezug zur Psychoanalyse: nicht will ich etwas gegen PsA hätte, sondern weil alles, was schließlich herauskommen soll, auf das Modell der psychoanalytischen oder therapeutischen Situation projiziert wird. In gewisser Weise geht es nicht so sehr um das Verständnis der Entwicklung des Kleinkindes, sondern darum die Ergebnisse der Kleinkindforschung dazu zu benutzen, um sich zu vergewissern, dass Patient und Therapeut einander grundsätzlich verstehen können – weil es trotz aller Hindernisse, die die psa Theorie beschreibt, intersubjektives Bewusstsein gibt. Dem kann man ja nur zustimmen, aber bei unserem Problem hilft es nach meinem Empfinden nicht viel weiter
- in gewisser Weise ist für mich auch die „Methode“ von Stern hier ein Rückschritt oder jedenfalls kein Fortschritt. „Methode“, damit meine ich so etwas wie das allgemeine Vorgehen, den Umgang mit den theoretischen Begriffe, die Ableitung usw. So etwa wie Holmes immer zu Watson sagt: „You know my method, Watson!“ Das grundsätzliche Problem, vor das sich nicht erst Stern gestellt sieht, ist die Frage, wie sich auch Einfachem Komplexes, aus Basalem Höheres entwickeln kann. Mir scheint Stern das Modell der „und-Summativität“ zur verfolgen: Höheres in der Entwicklung ergibt sich aus der Summierung von Einfachem plus einer Art Einsicht oder Sparsamkeitsforderung, dass das Ganze mit einer höheren, einfacheren Prinzip ja viel besser laufe. Die Widersprüchlichkeit der Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen versucht er vollständig durch eine theoretische wasserdichte Ableitung der Begriffe – allerdings zu Begriffen wie „Selbst,“ „Alter,“ „Bewusstsein“ oder „implizites Wissen,“ die ihrerseits hochgradig theoretisch unterbestimmt sind
Ich assoziiere mal die Punkte, die mir einfallen:
- Der Bezug zur PsA scheint mir hier eher als ein kritischer zu fungieren, denn der Autor führt ja ein Unbewusstes ein, das ganz anderen als freudianischen Postulaten folgt. In seiner Position kann es ein Problem in der Interaktion geben, das nichts mit Verdrängung zu tun hat, also nichts mit Triebabfuhrverboten, sondern das aus fehlender Passung oder aus Inkonsistenzen resultiert. Ein anderer Aspekt einer psychoanalysekritischen oder PA modernisierenden Konzeption von Stern wurde von ihm ja schon in den früheren Arbeiten klar gemacht. Es ist die hegelianische Postulierung eines Bedürfnisses nach Anerkennung durch den Anderen, das ja in gewisser Weise gegen die Über-Ich-Idee der Notwendigkeit zur Unterwerfung unter gesellschaftliche Normen gelesen werden könnte – vielleicht aber auch nicht.
- Was mich schon bei den frühen Stern-Arbeiten fasziniert hat, ist die Konzeption der Vitalitätsaffekte. Sie beschreiben eine emotionale Dimension, die unmittelbar an die Ausführung einer zielgerichteten Aktivität geknüpft ist, die also ganz im Sinne einer von einem (unbewussten) Motiv geleiteten Handlungsausführung mit unbewusste Operationen (im Leontjewschen Sinn) interpretiert werden kann. Dabei wir zum einen die emotionale Dimension in der Dynamik der Ausführung sichtbar (und damit auch ihre Authentizität), gleichzeitig beinhaltet das Modell eine interaktive Dimension, die komplexer ist als die tätigkeitstheoretische. Denn die Operationsdynamik, die in einer dyadischen Situation beschrieben wird, spiegelt und/oder beeinflusst unmittelbar die psychische Befindlichkeit des Partners (hier: des Babys). Mit der Einführung eines nichtreflexiven Bewusstseinsbegriffs (das Gewahrsein, das in leicht irritierten Automatismen aufblitzt, der eine affektive Komponente hat (so die GM-Definition) und der im Großen und Ganzen der aktuellen Bewusstseinsdefinition in der modernen analytischen Philosophie entspricht (aber etwas mehr psychologisch konstruiert ist, als das, was ich kenne) kann ich viel anfangen. Hier hat mir also die Koppelung von Bewusstheit und Emotionalität gefallen, die über eine bloß kognitive Fassung hinausgeht. Das fand ich auch relativ gut anschlussfähig an die Polyvagaltheorie, die ja primär auf emotionale Prozesse verweist. Dieser emotionale Aspekt erweitert oder bereichert m.E. auch die Spiegelneuronentheorie , die mir in ihrer Aktivitätszentriertheit eher kognitionslastig ist. Das soll keine Kritik am Konzept der Spiegelneuronen sein.
- Wie man vom nachträglichen lauten Denken über Mini-Episoden, wie sie im Frühstücksinterview beschrieben werden, zu einer komplexeren Handlungs- und Motivationskonzeption und zu den Interaktionsprozessen kommt, wie sie für das intersubjektive Bewusstsein charakteristisch sind, ist mir nicht klar. Der Verdacht der Aufsummierung liegt hier natürlich nahe. Was mir aber einleuchtet, ist die Konstruktion einer dyadischen Interaktionsgeschichte, in der gemeinsame Routinen durch wechselseitiges emotionales Engagement aufgebaut werden. Die Antizipation dieser – nennen wir sie mal sozio-emotionale Schemata – im Alltagshandeln und der dabei stattfindende Wechsel zwischen Bekanntem und Neuem in einem dynamisch rhythmisierten Interaktionsgeschehen, erscheint mir interessant.
- Letztlich hat mich die Differenzierung des Bewusstseinsbegriffs am meisten interessiert. Dass dabei auch noch eine angedeutete Entwicklung zur Genese der sprachlichen oder zeichenvermittelten Kommunikation drinsteckt, wie sich im 8. Kapitel andeutet, finde ich persönlich für mich am interessantesten. Ob ich dazu die GM-Konstruktion wirklich brauche, müssen wir ernsthaft diskutieren. Es ist aber in jedem Fall eine Erlebniskategorie, für die Stern sehr viele Anknüpfungspunkte konstruiert (Selbstbewusstsein, Unbewusstes), die man prüfen muss.
- Für mich war auch die Unterscheidung zwischen Bindungstheorie und Intersubjektivität, bzw. die Trias „Bindung-Intersubjektivität-Liebe“ interessant.
Was Du zur Bedeutung des Begriffs der Vitalitätsaffekte schreibst leuchtet mmir sehr ein - vor allem auch was die Anschlussfähigkeit an die Polyvagal Theorie und die Spiegelneuronen-Konzeption. Findest Du auch Anschließbarkeit in Bezug auf das "Erleben" als UoA bei Vyg.? Exakt das, was Du als Faszinosum der Vitalitätseffekte beschreibst, habe ich nämlich in Bezug auf diesen Versuch Vygs empfunden, das Erleben zum zentralen Punkt zu machen.
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