Die Metapher von den „Zwei Linien“
Wir
meinen, dass hinter diesem abgeschwächten Zwei-Linien-Modell eine Schwäche steckt,
die unbedingt vermieden werden sollte. Diese Schwäche ist die Schwäche der
Metapher von zwei Entwicklungslinien, die wie auch immer miteinander
verschmolzen sind, sich aufeinander zu bewegen oder überlagern oder welche
Bilder sonst für das Zusammenwirken gewählt wären. Wir sind der Meinung, dass
im Hintergrund dieser Metapher ein falsches Verständnis des Verhältnisses von
genetischer Prädisposition und sozialem Lernen steht, das sich im Übrigen auch
in den Modellen der neurokognitiven Psychologie im Hinblick auf das Verhältnis
von Gehirn und Geist reproduziert.
Um
den Fehler zu vermeiden sollte man sich u.E. an ein Piagetsches Diktum aus den
dreißiger und vierziger Jahren erinnern, in dem er sich zum Verhältnis von
Physiologie und Psychologie äußert, und zwar in Bezug auf den Greifreflex, der
sozusagen als pars pro toto für die
physiologischen Grundlagen des Verhaltens und damit auch für dessen genetische
Grundlagen steht. Piaget sagt, dass die erste Realisierung eines Reflexes, z.B.
des Greifreflexes, den Beginn des Psychologischen konstituiert. Der Vollzug des
ersten Greifreflexes – ob intra- oder extrauterin ist hier unerheblich –
konstituiert ein psychologisches Greifema. Der Greifreflex wird also nicht erst
durch diverse Zirkulärreaktionen in ein kognitives Schema transformiert,
sondern seine verhaltensmäßige Konstitution führt
zum psychologischen oder
kognitiven Schema bzw. ist das Schema,
das durch die dann folgenden Zirkulärreaktionen nur erfahrungsbezogen in
weiteren Assimilations- und Akkommodationsprozessen modifiziert wird. Die
Physiologie des Reflexbogens, die naturwissenschaftlich gut untersucht ist, ist
demnach keine Linie, die irgendwann mit der Linie der Erfahrungen aus wiederholten
Greifaktivitäten zusammentrifft und dann umgewandelt wird und eine psychologische
Form erhält, sondern sie ist und bleibt
ein physiologischer Prozess, so wie andere genetische Prädispositionen
neurologische, hormonelle oder motorisch-rezeptorische Prozesse bleiben, die
lebenslang wirksam sind. Sie bilden die Grundlage, sozusagen die
stofflich-energetische Basis für die psychischen Prozesse, die sich in und
durch die Tätigkeit des Individuums im
sozialen Kontext entwickeln. Hier trifft sich nichts, hier wird nichts verschmolzen,
sondern es handelt sich um zwei Ebenen oder um zwei Blickwinkel auf das gleiche
Ganze. Die Natur des Menschen ist seine Kulturfähigkeit und Kultur ist ohne die
menschliche Natur nicht realisierbar. Eine naheliegende Metapher wäre
vielleicht eher die von „Ross und Reiter“, die an Freuds Strukturmodell von Es
und Ich erinnert – wobei die immer virulente Frage: „Wer kontrolliert wen?“ für
Fragen von Entwicklungsprozessen vielleicht nicht die Relevanz besitzt
wie für Prozesse der Psychodynamik.
Die
folgenden Ausführungen sollen diesen Sachverhalt und mögliche
Fehlinterpretationen im Rahmen des Zwei-Linien-Modells anhand konkreter
Entwicklungsprozesse verdeutlichen, wobei wir uns vor allem dem Bereich der
Aufmerksamkeitsentwicklung zugewandt haben.
Aufmerksamkeitsentwicklung als ein Bereich der Entwicklung
Im Folgenden wollen wir versuchen, am Beispiel der
Aufmerksamkeitsentwicklung aufzuzeigen, was es bedeutet, von einer Linie der Entwicklung auszugehen. Dabei
ist die Auswahl der Entwicklung der Aufmerksamkeit keineswegs beliebig, sondern
wir haben eine psychische Funktion ausgewählt, die in beispielhafter Weise
verschiedene andere psychische Funktionen wie das Lernen, das Erinnern, das
Sprechen, das Wollen miteinander verbindet. Die Entwicklung der Aufmerksamkeit
kann als ein ausgezeichnetes Beispiel dazu dienen,
- einerseits zu verdeutlichen, dass sie von Geburt in einer Art und Weise ausgereift ist, die nur darauf wartet, die Zeichen aus der zunächst personalen und dann dinglichen Umwelt aufzunehmen
- andererseits wird ebenfalls deutlich, dass sich die Aufmerksamkeit im Laufe der Entwicklung auf fundamentale Art und Weise verändert, die man beschreiben kann als Übergang von der Außensteuerung zur Selbststeuerung. Man kann sagen, dass die Entwicklung der Aufmerksamkeit nicht in ein Schema passt, das sich als die gängige Entwicklungsvorstellung von rudimentären Formen zu höheren, komplexeren, differenzierteren darstellt. Die Aufmerksamkeit arbeitet schon in den ersten Stunden und Tagen nach der Geburt auf eine erstaunlich effektive Art und Weise. In den ersten Lebensjahren wird die Breite und Tiefe der kindlichen Aufmerksamkeit immer weiter gesteigert – das Kind entwickelt Aufmerksamkeit in Breitwandformat mit anfänglich fehlender, aber stetig steigender Fähigkeit zur Konzentration, seine Aufmerksamkeit erscheint dabei absolut außengesteuert: alles ist relevant, was sich in der nahen und mittleren Umgebung abspielt. Diese Steuerung durch die Außenwelt wird ergänzt durch eine hohe innere Aufmerksamkeit. Vielleicht kann man sogar sagen, dass für ein bestimmtes Alter diese Grenze zwischen „Innen“ und „Außen“ äußerst durchlässig erscheint[2].
Die Stärke dieser unbedingten, quasi einsaugenden Aufmerksamkeit ist
zugleich ihre Schwäche. Das Kind ist leicht abzulenken und nicht fähig, sich zu
konzentrieren oder die Aufmerksamkeit willkürlich und kontinuierlich bestimmten
Gegenständen oder einem bestimmten Geschehen zuzuwenden.
Aufmerksamkeitsentwicklung und die Evolution der Sensibilität
Die Entwicklung der Aufmerksamkeit scheint aus der phylogenetischen
Perspektive eng mit dem Thema der Entwicklung der Sensibilität verbunden zu
sein. Leont’ev hat in Probleme der
Entwicklung des Psychischen (1971) darauf hingewiesen, dass die von ihm
sogenannten signalisierenden Beziehungen,
durch Zeichen oder andere Reize vermittelte Beziehungen zwischen höheren
Organismen und ihrer Umwelt, nicht als Anfangspunkt der psychischen Entwicklung
und nicht als quasi gegeben genommen werden können. Vielmehr setzt die Existenz
von solchen signalisierenden und vermittelten Beziehungen voraus, dass bereits
eine hoch entwickelte Form der Sensibilität
besteht – die sozusagen am Anfang der Entwicklung der niederen Organismen
steht.
Je höher die Entwicklung des organischen Lebens voranschreitet, desto
wichtiger werden die vermittelten Beziehungen und desto weniger Raum nehmen die
direkten Beziehungen zur Umwelt. Für die Phase der frühkindlichen Entwicklung
bedeutet das aber nicht, dass die direkten Beziehungen keine Rolle spielen.
Wenn die Umgebung im Leben eines Einzellers quasi durch den Organismus hindurch
geht und die wesentliche Leistung der Trennung von Umwelt und Organismus das
Entstehen einer Art halb-durchlässiger Membran ist, dann ist die Aufgabe der frühkindlichen
Entwicklung nicht in einer Form der Abgrenzung, sondern in der Einbettung in
die sozial-interaktive personale Umgebung zu sehen. So sehr ist dies eine
Aufgabe, dass es einer Katastrophe in der Entwicklung gleich kommt, wenn ihr
nicht nachgekommen wird. Darüber haben die Untersuchungen zur sensorischen
Deprivation und zur Vernachlässigung ausreichende Hinweise gegeben.
Wir wollen hier den Zusammenhang an einem einfachen Beispiel aus der
Neuroanatomie illustrieren, die zeigt, welche dramatischen Unterschiede
zwischen einem Neugeborenen und einem Erwachsenen bestehen. Das Beispiel ist
dem Buch von Lise Eliot (1999; S. 26) entnommen.
Diese Darstellung zeigt sehr schön, was an neuronalem Wachstum
stattfindet – allerdings gibt es nur ein ungefähres Bild, denn die Zunahme und
Umbildung der neuronalen Vernetzung ist hier noch gar nicht dargestellt.
Diese Wachstumszone, die sich zwischen dem anfänglichen und dem
entwickelten Zustand des neuronalen Systems befindet, ist nicht nur in einem
ganz allgemeinen Sinne für Störungen anfällig, wie das für alle Prozesse der
Entwicklung gilt – etwa die besondere Anfälligkeit für die frühen Formen eines
Organismus. In dieser Zone der Entwicklung kommt es darauf an, dass die
neuronale und die allgemein-organische Entwicklung in einer genau passenden
Umgebung der Intersubjektivität, Empathie und Resonanz stattfindet (dazu unten
gleich mehr). So wie das Stoffwechselsystem auf eine bestimmte Form der
Nahrung, des Klimas usw. angewiesen ist das biologische Wachstum der neuronalen
Systemen auf bestimmte Formen der Primärerfahrungen in der Mutter-Kind-Dyade
angewiesen. Dies ist eine sehr eindrückliche Beschreibung der von uns
favorisierten These der „einen Linie“ der Entwicklung: die biologische
Entwicklung fordert oder setzt voraus eine bestimmte soziale Umgebung genauso
wie die soziale Entwicklung eine bestimmte biologische Situation erfordert, die
eine bestimmte soziale Umgebung fordert, usw. Es lässt sich im Sinne einer
echten Komplementarität das eine nicht ohne das andere denken.
Winnicott hatte gegen 1940 den Slogan geprägt: „There is no such thing
as a baby!“ und betont, dass die folgende ebenso einfache wie plausible
Tatsache zum Ausgangspunkt der Überlegungen zur frühkindlichen Entwicklung
gemacht werden müsse: „whenever one finds an infant one finds maternal care,
and without maternal care there would be no infant ( Winnicott, 1965, Fußnote
S. 38).
In der Mutter-Kind-Dyade kommt es zur Entwicklung von extensiven
raumzeitlichen Mustern, auf deren Grundlage Zuschreibungen, Attributionen von
mentalen Zuständen möglichen werden, die wiederum die Selbst-Attribuierung
erfordern und fördern. Dies wiederum ist eine wichtige Voraussetzung für das
mentale „Andocken“, die soziale Bindung, zur sozialen Resonanz.
Wenn wir diesen Zusammenhang betrachten, ergibt sich die Notwendigkeit,
unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen ein erneuertes Verständnis
von „Sorge“ (eine vielleicht nicht so gelungene Übersetzung von „child care“,
vielleicht ist Sorgsamkeit besser,
wenn auch nicht schöner) zu gewinnen und zu praktizieren. Es scheint plausibel,
davon auszugehen, dass das Konzept der „good enough mother,“ wie es Winnicott
für das Gelingen frühkindlichen Aufwachsens formuliert hat, aktualisiert werden
muss bzw. sich ja irgendwie von selbst akutalisiert. Wir werden später darauf
zurück kommen.
Die Entdeckung der Mutterliebe: Die Experimente von Harry Harlow
Ist eigentllich auch für andere Primaten eine Vernachlässigung in ihrer
Entwicklung möglich? Oder ist dies nur eine spezifische Erscheinung für die
menschliche frühkindliche Entwicklung? Und was würde Liebe, Zuwendung, Empathie
als notwendige Bedingung guter Fürsorge für andere Primaten bedeuten?
Eine interessante Lektüre, die uns in den Bereich dieser Fragen hinein
führt, ist Deborah Blums „Die Entdeckung der Mutterliebe: Die legendären
Affenexperimente des Harry Harlow“ (Blum, 2010).
Die Bilder von den kleinen Äffchen, die sich an Drahtmodelle klammern,
die irgendwie ihre Mütter darstellen sollen, sind schon erschütternd. Aber
Harlow war eher ein Botschafter der Liebe als eine hartnasiger Gefolgsmann von
Watson, der in seinen Erziehungsratgeber ja noch empfohlen hatte, den kleinen
Kindern nicht zu viel Körperkontakt und Wohlbefinden zukommen zu lassen, weil
das nicht gut für ihre Entwicklung sei: Mütter sollen ihren Kindern nicht
zuviel Liebe und Aufmerksamkeit schenken und Eltern sollten ihre Kinder nicht
auf ihrem Schoß sitzen lassen (Watson, 1928).
Harlow wollte mit seiner Versuchsanordnung beweisen, dass die affektive
Beziehung zur Mutter eine lebenswichtige Dimension für die kleinen Affen
darstellt. Er konstruierte zu diesem Zweck eine „Mutter“ aus Draht und einem
Roboterkopf und eine „Mutter“ aus flauschigem Stoff, die ein irgendwie
affenähnliches Gesicht mit großen Augen besaß. Die Äffchen hatten eine
eindeutige Präferenz: sie hielten sich immer und ausschließlich bei der „Stoffmutter“
auf – auch dann, wenn die „Drahtmutter“ mit einer Saugvorrichtung ausgestattet
wurde, die den Äffchen Nahrung gab. Das mittlere Bild zeigt, wie die Äffchen
das Dilemma von Hunger nach Nahrung und Hunger nach Zuwendung lösten: sie
versuchten die Saugvorrichtung zu erreichen ohne die „Stoffmutter“ los zu
lassen.
Entwicklung der Aufmerksamkeit als Entwicklung semiotischer Systeme und ihrer Vernetzung
Suchte man nach einer Wahl, die anders ist als die Wahl von
biologischen oder sozialen Erklärungsversuchen, also nach einer Wahl, die
gerade das Zwei-Linien-Dilemma vermeidet, dann bietet sich ein semiotischer
Ansatz ganz zwangsläufig an, denn „Zeichen“ kann als Begriff verstanden werden,
der sich sowohl auf mentale wie auf organismische Zustände beziehen lässt – so
wie sich etwa „Reiz“ auf Prozesse der Erregungsleitung aber auch auf Gefühlszustände
beziehen. Tatsächlich hat Lev Vygotkskij in dem berühmten Dreieck, in dem er
die Natur der vermittelten Handlung erläutert, ja auch von einem „vermittelnden
Reiz“ gesprochen. Wenn man so will ist diese Idee, den Reiz als Grundlage zu
nehmen, eine „stand alone“-Version, während die „Zeichen“-Idee quasi die sozial
vernetzte Version darstellt.
Reize sind eben durch ihre hohe Selektivität definiert: sie lösen eben
nur eine bestimmte, die konditionierte Reaktion aus. Zeichen hingegen sind, vor
allem in der Auffassung von Peirce, quasi von Anfang dazu bestimmt, sich mit
anderen Zeichen, anderen Objekten und anderen Interpretanten zu verbinden –
dies verdanken sie dem Umstand, um einmal Winnicott zu paraphrasieren, dass
„there is no such thing as a sign,“ sondern immer nur die Dreiheit von Zeichen,
Objekt und Interpretant.
Macht man sich klar, dass etwa ein Zeichen zum Gegenstand gemacht werden kann, dann sieht man sofort, wie sich Zeichen, Interpretant und Objekt zu unendlichen Netzwerken zusammen schließen.
Vernetzung von Zeichen |
Wie
das genau passiert, kann man sehr schön an den Studien zur Entwicklung der
gemeinsamen Aufmerksamkeitsausrichtung im ersten Lebensjahr im Vergleich
zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Primaten sehen.
Mikroprozesse der Aufmerksamkeitsentwicklung: Vorsprachlichen Repräsentationen als interaktionales Netz sozio-emotionaler Signale und Zeichen
Die Entwicklung der Aufmerksamkeit folgt nach Tomasello ungefähr in
einem Dreischritt, der drei Stadien der geteilten Aufmerksamkeit darstellt: das
Kind prüft zunächst, ob sich die Aufmerksamkeit tatsächlich auf das gleiche
Objekt richtet, dann kann es im Alter von 11-14 Monaten dem Blick oder der
Geste der Mutter folgen, die seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmtes Objekt
richtet und kann kurz darauf die geteilte Aufmerksamkeit feststellen, die den
Kern der deklarativen Aufmerksamkeit darstellt
In der Abbildung entspricht das deklarative Zeigen den dickeren Pfeilen
zwischen Kind und Mutter: das Kind lenkt die Aufmerksamkeit der Mutter mit
Hilfsmitteln: Zeichen, Gesten, Zupfen am Rockzipfel oder Sprache. Die Mutter
verwendet ebenfalls Zeichen oder Sprache.: „Schau doch mal den süßen Hund“.
Deklaratives Hinweisen |
Tatsächlich erscheint jedoch das deklarative Hinweisen noch sehr viel
komplexer, einerseits in Bezug auf die „internen“ interaktional möglichen Beziehungen,
andererseits in ihrem Verweis auf den sozialen und historischen Kontext dieser
Beziehungen. Wenn man auf das Photo blickt, wird die unausgewiesene Fülle von
emotionaler Wechselseitigkeit, Körperlichkeit und Interaktionsgeschichte
nachvollziehbar, die ein deklarativer Hinweis enthalten kann, einschließlich
schichtspezifischer, ethnischer oder geographischer Aspekte, die mit in die
Szene eingehen und für beide Partner eine Rolle spielen.
Deklaratives Hinweisen „live“ |
In den letzten Jahren haben sich unterschiedliche Forscher der Frage
zugewandt, wie es mit der emotionalen Seite in diesen frühen Phasen der
Aufmerksamkeitsentwicklung aussieht.
Sie kommen teilweise aus dem Kontext der Psychoanalyse (Peter Fonagy
und Mitarbeiter, Stanley I. Greenspan oder Daniel Stern). Sie befassen sich mit
der frühen Affektregulation oder Affektabstimmung zwischen Mutter und Baby.
Emotionalität ist dabei gewissermaßen der „Basisschmierstoff“ für die
Entwicklung, auch für die Entwicklung der Aufmerksamkeit.
Doch auch Manfred Holodynski (2006),
dessen Modell der Emotionsregulation sich unter anderem explizit auf Vygotskij
bezieht, geht von einem Prozess aus, in dem durch die Affektregulation auf
Seiten der Erwachsenen und den damit verbundenen Ausdruckszeichen - sowohl in
ihrer mimisch-gestischen Form, als auch in ihrer kulturellen Bedeutung – das
Kind die Bedeutung seiner Gefühle kennenlernt. In diesem Prozess werden
gewissermaßen die Ausdruckszeichen der Bezugpersonen – Holodynski bezieht sich
wie wir hier auf eine Peirce-Adaptation – zu Zeichen für die Emotionen des
Kindes, entsprechend dem Vygotskijschen Prinzip des Transfers vom
Interpsychischen zum Intrapsychischen.
Auch Fonagy und Mitarbeiter
(Fonagy 2006; Fonagy et al., 2004) operieren mit episodischen Abstraktionen aus der Mutter-Kind-Interaktion die aus
den überzeichnete Affektspiegelungen der Mutter gespeist werden. Mit solchen
überzeichneten Affektspiegelungen hilft die Mutter dem Kind gewissermaßen „von
außen“, seine Affekte zu regulieren. Das Kind speichert dann die wiederkehrenden
Gefühlsausdrücke der Mutter als Bilder und nutzt diese Repräsentation zur Symbolisierung
emotionaler Zustände oder Situationen.
Tomasello (1999) sagt wenig zur Regulation
von Emotionen, sondern postuliert eine Art
„emotionales Grundbedürfnis“ nach „sharing of intentions“, d.h. nach dem
gemeinsamen Handeln, das genetisch prädisponiert sei.
Bei Bowlbys (1982, 2001) Begriff der
Bindungsqualität, deren Ausprägung mit einem Jahr zu einem ersten Abschluss
gekommen ist, wird explizit - zumindest bei der unsicher-vermeidenden Form der
Bindungsqualität - von Verdrängungs- und Verschiebungsprozessen gesprochen, in
denen das Kind die abweisenden Verhaltenweisen der Mutter nicht ihr, sondern
sich selbst attribuiert, was dann zur Kontrolle der negativen emotionalen
Impulse gegenüber der Mutter in Stress-Situationen führt. Auch in diesem Modell
kann man eine Art von Internalisierung der emotionalen Ausdruckszeichen der
Bezugspersonen verorten. Bowlby benützt
für die Verarbeitung der Reaktionen der
Bezugpersonen den unpräzisen Begriff „internal working model“, das nach
anfänglichen nichtsprachlichen Repräsentationsformen später
sprachlich-symbolisch überformt würde.
Greenspan & Shankers (2007) Repräsentationsbegriff
setzt die Fähigkeit der Trennung von Wahrnehmung und Handlung voraus, wofür er
die Metapher des „freistehenden Bildes“ nutzt: Kinder und höhere Säugetiere
sind zur Trennung von Wahrnehmung und Handlung fähig, weil eine Wahrnehmung
nicht den dazu notwendigen Handlungsimpuls automatisch nach sich zieht. Dies
führe zur Entstehung des „freistehenden Bildes“, sozusagen eines Bildes ohne
den Handlungszwang der Flucht, des Angriffs, der Konsumtion etc. , das dann in
der Interaktion mit emotionalen Signalen verbunden würde, die dann einen
repräsentationalen Zugang zu den eigenen Gefühlen und schließlich auch zur
Sprache eröffneten.
- Trotz ihrer unterschiedlichen theoretischen Herkunft stimmen die Forscher darin überein, dass die Differenzierung der Emotionen des Kindes und die Fähigkeit zu ihrer Regulation und psychischen Repräsentation in den Interaktionen mit den Bezugpersonen, insbesondere mit der primären Bezugsperson und damit zumeist der Mutter, stattfindet.
- Ebenso ähneln sich die Ansätze in der These, dass dieser Prozess im ersten Lebensjahr beginnt und Zeichencharakter aufweist, und zwar vorsprachlichen Zeichencharakter. Auch wenn nicht alle Autoren den Zeichenbegriff verwenden und sich nur Holodynski ausdrücklich auf Peirce bezieht, gehen doch alle von einer Form der Etablierung nichtsprachlicher Repräsentationsformen aus.
- Drittes gemeinsames Merkmal ist der schon erwähnte Bezug zu Vygotskij, der sich bei Fonagy, Holodynski und Tomasello an entsprechenden Stellen explizit findet. Allerdings hat Vygotkij kein Modell, das vorsprachliche Zeichensysteme vorsieht, es geht vor allem um das Entwicklungsprinzip „vom Interindividuellen zum Intraindividuellen“, was dann auch für vorsprachliche Prozesse gelten kann.
- Mit Ausnahme von Holodynski haben alle anderen Vertreter keinen Ort für die Anbindung makrokultureller Prozesse. Im Gegenteil – hier muss man vielleicht auch Vygotskij einbeziehen - , alle operieren auf einem hohen Verallgemeinerungsniveau, ohne auf das Problem des Ethno- oder Eurozentrismus zu achten. Die Arbeiten von Carolin Demuth (Demuth et al. 2011, Vergleichstudie der Mutter-Kind-Interaktionen mit drei Monate alten Kindern in Münster und Ghana) zeigen, dass dieses Problem sowohl in seiner inter- wie in seiner intrakulturellen Dimension völlig ausgeblendet wurde – was nichts mit politischer Korrektheit zu tun hat, sondern u. E. auf schwerwiegende theoretische Mängel verweist.
Aus den referierten Positionen wird für die Entwicklung der
Aufmerksamkeit Folgendes deutlich: Es geht hier nicht um einen
allgemeinpsychologischen Automatismus oder automatischen Reifungsprozess.
Vielmehr muss der semiotische Blickwinkel, wenn er auch die Makroperspektive
der Kultur in einem wirklich kulturhistorischen Ansatz einnimmt, von einem
hochkomplexen Vernetzungszusammenhang ausgehen, der mehr beinhaltet als den
Blick auf eine mitteleuropäische Mittelschicht-Mutter in der Interaktion mit
ihrem Einzelkind.
Ein Aspekt dieses Zusammenhangs kommt im nächsten Punkt zur Sprache
Aufmerksamkeit im gesellschaftlichen Kontext
Die obige Darstellung des deklarativen Hinweisens, des referenziellen
Teilens von Aufmerksamkeit zeigt uns auch, dass diese äußerst komplexe
interaktive Konstellation auch ziemlich störanfällig ist, insofern ihr Gelingen
von multiplen, miteinander reflexiv verschränkten Deutungs- und
Interpretationsprozessen abhängt – und nicht allein davon, dass sozusagen der
emotionale Grund dieser Beziehungen stimmig und unterstützend sein sollte.
Dieser Aspekt führt unsere Betrachtungen weiter zu der Frage, wie
Aufmerksamkeitsstörungen entstehen, worin sie bestehen und wie die Bedingungen
ihrer erfolgreichen Therapie zu veranschlagen sind. Das Thema ADS
(Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) nimmt seit Jahren in der pädagogischen Praxis
einen großen Raum ein – wovon uns Margarete Liebrand ja immer mal wieder
berichtet hat. Es muss nicht weiter ausgeführt, welchen Beitrag zur
Marginalisierung und Stigmatisierung von Kindern mit schulischen Problemen
dieser Begriff und seine Anwendung leisten – zusammen mit der Praxis der
skandalösen Verabreichung von Medikamenten wie Ritalin und Prozac
Wir können dieses Thema hier nicht auch nur annähernd so ausführen wie
es nötig wäre, um die Zusammenhänge angemessen darzustellen. Deshalb hier nur
zwei Aspekte, zwei Schwerpunkte, die einigermaßen wichtig erscheinen:
- die Pathologisierung der Aufmerksamkeitssteuerung
- die Rolle der Medien und die Politik der Aufmerksamkeitssteuerung
Die Pathologisierung der Aufmerksamkeitssteuerung
Die galoppierende Inflation der Diagnose „ADS“ und Co. gibt schon einen
Hinweis darauf, dass es sich hierbei nicht wirklich um eine epidemische
Erkrankung, um einen pathologischen Befund handelt. Eher ist es ein Versuch der
Steuerung und der Selektion im schulischen Bereich.
- Der langsame Übergang von der Breitband-Aufmerksamkeit zur kontrollierten, willkürlich gesteuerten Aufmerksamkeit in der frühkindlichen Entwicklung ist ein Prozess sozialer Bindung, der zu dem paradoxen Ergebnis größerer Eigenständigkeit und Autonomie führt. Störungen dieses Übergangs können nur in sozialen Situationen aufgefangen und heilend neu vermittelt werden. Hier ist das Vygotskijsche Modell von der steuernden Funktion der Sprache ein gutes Modell, wenn es in den o.g. sozio-emotionalen Kontext eingeordnet wird.
- Es bringt wenig, nach noch tiefer liegenden organischen Ursachen für Aufmerksamkeitsprobleme zu suchen – eben weil wir es hier mit einer Linie der Entwicklung zu tun haben. Bei Wolfgang Jantzen, „Über die soziale Konstruktion von Verhaltensstörungen – Das Beispiel Aufmerksamkeitsdefizitsysyndrom (ADS)“ finden wir zwei Variationen dieser Suche. Einerseits sieht er in der Narkolepsie (Schlafkrankheit) den „Kern des Syndroms“ der ADS, andererseits hält er solche Versuche für sehr gelungen, die frei flottierende Aufmerksamkeit, die für Kleinkinder und ADS-gelabelte Kinder gleichermaßen typisch ist, als ein phylogenetisches Re-enactment der Mentalität des herumstreifenden Jägers zu verstehen. Und typischerweise finden diese Vertreter denn auch Größen der Vergangenheit, vor allem Erfinder und Künstler, die angeblich ADS hatten – wie man das ja auch schon von den unter Legasthenie leidenden Genies kennt.
Medien und Psychopolitik der Aufmerksamkeit
Die allfälligen Klagen sind bekannt, dass die Medien und der Konsum von
Fernsehen und Videospielen, dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass
Kinder sich in Kindergarten und Schule nicht mehr konzentrieren können. Man
kann diesen Klagen zustimmen und eigene Erfahrungen zur Klagemauer tragen, oder
man kann diese Klagen für Unsinn halten und auf Beispiele gelungener
schulischer Leistungen aus der näheren und ferneren Anschauung verweisen.
Beides sollte man nicht tun. Schließlich war die erste Welle der Computernutzung
durch Kinder und Jugendliche vor allem von dem Vorwurf gekrönt, dass sie, dem
Lesenlernen, dem Umgang mit Schriftsprache, ja, der literalen Kultur insgesamt
den Todesstoß versetzen würde. Das ist nicht eingetreten, sondern das
Gegenteil. Die Computernutzung hat in nicht antizipierter Art und Umfang zur
Alphabetisierung beigetragen. Man sollte also besser vorsichtig mit den
Prognosen sein.
Was waren die Ursachen für diesen nicht erwarteten Effekt? Hans
Brügelmann hat (siehe z. B. 1980, 1984) in seiner Pädagogik des Schriftspracherwerbs von Anfang an
darauf hingewiesen, dass der motivational konkurrenzlose Motor der Aneignung
der Schriftsprache in der Erkenntnis liegt, dass die Schriftsprache der
Kommunikation dient. Die kommunikative Einsicht begründet aber auch die Einsicht
in eine hinreichende Robustheit des Geschriebenen gegen Fehlinterpretationen:
Schriftbild und grammatikalischer Aufbau müssen dekodierbar sein für den Empfänger
des Geschriebenen, sonst ist es allenfalls eine Botschaft für den Schreiber
selbst. Offensichtlich waren die jugendlichen Nutzer ebenfalls von dieser
Einsicht in die kommunikative Funktion der Schriftsprache beflügelt.
Mit einem anderen Sachverhalt haben wir es allerdings zu tun, wenn es
um den frühkindlichen Konsum von Fernsehen geht.
In seinem bemerkenswerten Buch „Die Logik der Sorge“ (Suhrkamp 2008)
hat Bernard Stiegler aufgezeigt, wie sich die Veränderungen des Kapitalismus,
die eine völlige Veränderung der Medien mit sich bringen, auf die Sorge und
Verantwortung um die heranwachsende Generation. Ausgangpunkt seiner Analyse ist
die weltweit – vor allem in den USA und Frankreich – zu beobachtende Tendenz,
die Volljährigkeit jugendlicher Straftäter juristisch und gesetzlich nicht mehr
als ausschlaggebend für die Schuldfähigkeit anzusehen. Es ist einsichtig, dass
diese gesetzliche Maßnahme grundlegend die Verantwortlichkeit gegenüber den
„Minderjährigen“ ablehnt und zerstört, so wie sie zugleich die Volljährigkeit
und Verantwortlichkeit ihrer erwachsenen Eltern zerstört.
In einem anderen Beispiel, das Stiegler zum Ausgangspunkt nimmt,
versucht ein französischer Fernsehsender, Canal
J, in groß angelegten Kampagnen den Kindern und ihren Eltern klar zu
machen, dass die Kinder etwas Besseres verdient haben als die Sorge ihrer
Eltern, indem sie die Eltern und Großeltern der Lächerlichkeit preisgeben.
Die Kinder verdienen etwas Besseres als das was ihnen ihre Eltern anbieten, findet Canal J |
Stiegler begreift diese Versuche der Einflussnahme nicht als
vereinzelte Verirrungen eines schlechten Geschmacks, sondern er sieht sie im
Rahmen einer Strategie der Entmündigung durch Industrie und des Finanzkapitals,
in der es darum geht, die Hegemonie über die Aufmerksamkeit der heranwachsenden
Generation zu gewinnen um sie von klein an als Kunden und User zu gewinnen.
Schule, Unterricht, akademische Ausbildung basieren auf einer historisch bestimmten Form der rationalen und kritischen Aufmerksamkeit, die durch den Begriff der Mündigkeit charakterisiert ist und die ein „Wir“-Bewusstsein als Mit-Wissen (con-scientia) einschließt.
Schule, Unterricht, akademische Ausbildung basieren auf einer historisch bestimmten Form der rationalen und kritischen Aufmerksamkeit, die durch den Begriff der Mündigkeit charakterisiert ist und die ein „Wir“-Bewusstsein als Mit-Wissen (con-scientia) einschließt.
Die gegenwärtige Zerstörung dieses historischen Stadium des Bewusstseins durch die Psychomacht, ohne das keine Form des Unterrichts schulischer oder akademischer Natur, der diesen Namen verdiente, möglich ist, entspricht der Zerstörung des demokratischen Systems der Sorge durch eine Macht, die aus Prinzip keine Sorge trägt.
Es handelt sich bei dieser Macht um die Finanzspekulation, die die Gleichgültigkeit zum Mechanismus ihrer Dynamik des Mißwachstums gemacht hat, eine negative Dynamik: Die Dynamik des Schlimmsten – insofern sie systematisch das Kurzfristige und die ihm entspringenden Kurschlüsse (psychische, soziale, börsenmäßige usw.) bevorzugt. Sie hat die Investition des Kapitals durch die Spekulation ersetzt, die die Unternehmen zerstört, indem sie sie der Möglichkeit beraubt, ihre Zukunft zu entwerfen ... (Stiegler 2008, 87-88).
Der
entscheidende Punkt ist nun, dass die Phase der Entwicklung der kindlichen Aufmerksamkeit,
die wir oben beschrieben, sozusagen nicht den sozialen und kulturellen Input erhält,
der notwendig ist, damit diese Entwicklung mit dem tendenziellen Erreichen
einer gelungenen, mündige, rationalen und kritischen Aufmerksamkeit ist
abgeschlossen werden kann. Auf diese Weise kann die frei flottierende
Aufmerksamkeit des Frühkindstadiums nicht „kultiviert“ werden, sondern
verbleibt quasi in einem, nur aber regressiven, Stadium. Die Psychotechnologie
der konserviert umso umfassender diese regressive Aufmerksamkeit als das
Internet mit immer neuen Verfahren und „Verbesserungen“ den Zustand fortzuschreiben
versucht, den es angeblich versucht, erträglicher zu machen. Insbesondere die
digitalen Netzwerke ersetzen die Notwendigkeit einer Kultivierung der
Aufmerksamkeit durch eine technische, indem sie Aufmerksamkeitsprofile der
Nutzer erstellen, das die Interessen, die Aktivitäten und die Werte des Nutzers
widerspiegelt.
In Wahrheit kann eine solche Defintion von Aufmerksamkeit, die auf die Heilung des Aufmerksamkeitsdefizits als Syndrom der kognitiven Übersättigung abzielt, dieses Defizit lediglich verschärfen, sofern man sie nicht als eine Umgebung auffaßt, die die Entwicklung von Aufmerksamkeit durch Kultivierung fördert, sondern als technisches System, das diese ersetzt oder kurzschließt (Stiegler 2008, 151).
Biopolitik der Aufmerksamkeitssteuerung
Über 6 Millionen Kinder, darunter ungefähr 10% aller 6-18jährigen
Jungen, erhalten in den USA Ritalin, damit sie in der Schule „besser
klarkommen“ – ungeachtet der Tatsache, dass es keinerlei wissenschaftlich
stichhaltigen Beweise dafür gibt, dass das Ungleichgewicht von
Adrenalin/Noradrenalin und Serotonin im Gehirn die Ursache für ADS ist
Zwischen 1995 und 1999 nahm der Gebrauch von Ritalin bei Kindern unter
7 Jahren um 23% zu und der Gebrauch von Prozac und ähnlichen Antidepressiva
steigert sich in der gleichen
Altersgruppe um sage und schreibe 580% - ungeachtet der Tatsache, dass diese
Medikamente für Kinder unter 18 Jahren nicht zugelassen waren.
Name
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Wirkstoff
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Medikamentengruppe
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Für wen?
|
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Strattera®
|
Atomoxetin
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Selektiver Noradrenalin Wiederaufnahme Hemmer (NARI)
|
Kinder ab 6 Jahren, Jugendliche und Erwachsene mit einer
eindeutigen ADS Diagnose
|
||
Tofranil® Imipramin - neuraxpharm®
|
Imipramin
|
Trizyklisches Antidepressiva (TZA)
|
Kinder ab 6 Jahren, Jugendliche und Erwachsene mit einer eindeutigen
ADS Diagnose
|
||
Petylyl® - Dragees
|
Desipramin
|
Trizyklisches Antidepressiva (TZA)
|
Erwachsene
|
||
Trevilor® Venlaflaxin
|
Serotonin-Noradrenalin
|
Wiederaufnahme Hemmer (SNRI)
|
nicht für Kinder und Jugendliche (<18 Jahre)
|
||
Aurorix® Moclix®
|
Tofranil
|
trizyklisches Antidepressivum
|
Bindung und Selbst-Kontrolle
Bindung ist auch „Kundenbindung“ ...
Die verantwortliche Sorge wird aber nicht
nur von außen, von kapitalistischen Interessen, sondern auch von innen
zerstört. Die Missbrauchsskandale geben ein beredtes Zeugnis davon ab. Dass es
die kirchliche Internate und andere prinzipiell lustfeindliche Institutionen
besonders getroffen hat, scheint dabei aber eher eine Verlängerung der
Vergangenheit als ein historisch neuartiges Phänomen. Schrecklich ist es, dass
nun die Vorzeigeinstitutionen der pädagogischen Reform moralisch zerrüttet
sind.
Die so ausführliche Berichterstattung über
das Ausmaß der Zerrüttung, der Verwerflichkeit und der Korruption hat wohl
nicht zuletzt auch den Zweck ad oculos zu demonstrieren, dass nicht nur
den Eltern, sondern auch den erzieherischen Institutionen die
Verantwortlichkeit grundsätzlich abgesprochen werden kann. Diesen Personen und
Institutionen „Bindung“ der kindlichen Entwicklung zu ermöglichen, erscheint
undenkbar.
Hier ist aber nicht nur die
Missbrauchsskandale relevant, sondern die Tatsache, dass Eltern nicht mehr
wissen, wie sie ihre Kinder erziehen sollen. Das ist auch eine Seite von Canal
J: die Eltern wollen erziehen, wissen aber nicht mehr wie es geht, weil der
gesellschaftlich-historische Bedeutungs- und Sinnzusammenhang dazu verloren
gegangen ist und Kindererziehung wie eine Art Do-it-yourself-Job wahrgenommen
wird, den man irgendwie bewältigen lernen muss, notfalls durch mediale
Vorbilder, durch Ratgeberliteratur, am besten aber, indem man die Kinder in
entsprechende professionelle Kontexte gibt.
Ob das wirklich so ist, ist jedenfalls eine
tiefgreifende Frage: ob der gesellschaftlich-historische Bedeutungs- und
Sinnzusammenhang, den Stiegler ja mit dem Begriff der Kantschen „Mündigkeit“
paraphrasiert, wirklich in der Vergangenheit des letzten Jahrhunderts der
Hintergrund für die Gesamtheit der elterlichen Erziehungsvorstellungen aller
Schichten gewesen ist, bleibt ernsthaft zu bezweifeln. Insofern kann man zwar
sagen, dass eine bürgerliche Elite vielleicht nicht mehr weiss, wie das
Erziehen geht – aber große Teile der arbeitenden Bevölkerung haben da doch ganz
andere vorstellen als „Mündigkeit“ gehabt. Im übrigen, wenn ich an die
Erziehungsexperimente des Herrn Schreber (der mit den Gärten) mit seinem dann
schließlich an der Erziehung irre gewordenen Sohn denke, ist selbst für das
Bürgertum diese Darstellung einer an der Mündigkeit orientierten
Erziehungsvorstellung nur in Teilen zutreffend.
Literatur
Blum, D. (2010). Die Entdeckung der Mutterliebe: Die
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[1]
Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich nur um eine Linie handelt. (Langfassung des
Vortrages auf dem 7. Workshop Tätigkeitstheorie und kulturhistorische Schule“
vom 9.- 11. Juli 2010 im Haus Ohrbeck bei Osnabrück)
[2]
Das erinnert an die „methodologische Maxime“ der Naturbetrachtung, die Goethe
in dem Gedicht Epirrhema so
beschrieben hat:
„Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen, das ist außen.“
(Goethe 1972, S. 545)
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