Dienstag, 17. Februar 2015

Zwei Linien der Entwicklung - Eine Neubetrachtung von Vygotskijs These - von Martin Hildebrand-Nilshon und Falk Seeger


In diesem Papier werden wir auf Vygotskijs Vorstellung zur Entwicklung der höheren psychischen Funktionen eingehen und sie zu neueren Ergebnissen in der Vergleichenden Psychologie, der Entwicklungspsychologie und älteren Ideen in der Analytischen Philosophie in Beziehung setzen. Experimente zum Thema “joint attention” und “sharing of intentions” mit Menschenaffen und mit Babys zeigen mehr Ähnlichkeiten zwischen den Spezies, als bisher vermutet wurde. Außerdem haben die Forschungsergebnisse der kognitiven Entwicklungspsychologie gezeigt, dass es scheinbar basale Voraussetzungen für physikalische, mathematische, räumliche und sprachliche Erkenntnisleistungen gibt, die von Geburt an nachweisbar sind und somit zu unserem evolutionären Erbe gehören. Wir wollen diese Befunde analysieren und prüfen, ob sie als Bestätigung des Vygotskijschen Modells der Entwicklung gelten können. Interessanterweise hat sich gezeigt, dass neben aktuellen experimentalpsychologischen Befunden auch ältere Beiträge aus der Philosophy of Mind ein Wörtchen mitzureden haben.

In diesem Beitrag werden wir einige Argumentationslinien aufnehmen, mit deren Ausarbeitung wir in einem Beitrag von 2006 begonnen hatten (vgl. Hildebrand-Nilshon & Seeger 2006, vgl. unten Fußnote 8). Insbesondere werden wir dabei auf den Hintergrund unserer Kritik an Vygotskijs berühmtem Beispiel der Entwicklung der hinweisenden Gebärde (vgl. Vygotskij 1992) eingehen und uns dabei auf neuere Befunde aus der Entwicklungspsychologie, der vergleichenden Psychologie und der analytischen Sprachphilosophie beziehen.
Dabei handelt es sich um Ergebnisse aus mindestens zwei wesentlichen Quellen, die eine Aktualisierung und Ausarbeitung der Diskussion über die Entwicklung der Semiose und der Sprache in der kulturhistorischen Psychologie und der Entwicklungspsychologie verlangen.
Auf der einen Seite finden wir interessante neue Entwicklungen im Bereich der vergleichenden Psychologie, der Entwicklungspsychologie und der Psychologie der Sprachentwicklung. In diesem Bereich werden beispielsweise die Fähigkeiten kleiner Kindern und Menschenaffen untersucht, die Intentionen von Artgenossen zu verstehen und zu interpretieren. Die Forschungen von Michael Tomasello und seinen Mitarbeitern am Max-Planck-Institut für experimentelle Anthropologie in Leipzig sind repräsentativ für diesen Bereich neuer Erkenntnisse. Man könnte hier noch zwischen einen Ansatz im Rahmen der vergleichenden Psychologie und einem Ansatz im Bereich der Sprachentwicklungsforschung unterscheiden. Interessanterweise zeigt Tomasellos Werk über die Entwicklung der Sprache (Tomasello 2005) jedoch, dass hier keine klaren Grenzziehungen zwischen verschiedenen Ansätzen sinnvoll erscheinen. Dies ist noch deutlicher im Bereich der entwicklungsbezogenen Forschung, die Tomasello und seine Mitarbeiter durchführen, die eindeutig im Bereich der Entwicklungspsychologie angesiedelt werden können, aber im Forschungskontext der vergleichen Psychologie und der Psychologie der Primaten durchgeführt werden.
Auf der anderen Seite sind Arbeiten in der Analytischen Philosphie und der Tradition Wittgensteins von einschlägiger Bedeutung für die von uns diskutierten Fragen. Das Problem der Bedeutung wird hier unter einem Gesichtspunkt angegangen, der für die Psychologie ausgesprochen erhellend sein kann, auch wenn die Autoren wie Davidson, Brandom und Wellmer dies gar nicht beabsichtigen, sondern unter dem Aspekt der Sprachphilosophie diese Fragen angegangen sind.

Geteilte Intentionalität und die zwei Linien der Entwicklung

Ein herausragendes Merkmal von Vygotskijs entwicklungspsychologischem Ansatz ist seine Darstellung der “Entwicklung der höheren psychischen Funktionen.” Höhere psychische Funktionen sind für ihn spezifisch menschliche Typen von psychischen Funktionen, die zu vergleichen sind (1) mit den psychischen Funktionen unserer tierischen Vorfahren in der Phylogenese, und (2) mit den psychischen Funktionen von Kindern und Kleinkindern in der Ontogenese.
Zu Beginn seiner “Geschichte der höheren psychischen Funktionen” (1992) stellt Vygotskij fest, dass es noch eine anderen Dimension gibt, die sozusagen quer dazu verläuft:
Der Begriff “Entwicklung der höheren psychischen Funktionen” und unser Untersuchungsgegenstand erfassen zwei Gruppen von Erscheinungen, die auf den ersten Blick vollkommen unterschiedlich zu sein scheinen. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um zwei grundlegende Zweige der Entwicklung der höheren Verhaltensformen, die unaufhebbar verflochten sind: 1. Die allmähliche Beherrschung der äußeren Mittel, die die kulturelle Entwicklung und das Denken ermöglichen – der Sprache, der Schrift, des Rechnens und des Zeichnens – und 2. die Prozesse der Entwicklung spezieller  höherer psychischer Funktionen, die weder abgegrenzt noch klar definiert sind und die in der traditionellen Psychologie “willkürliche Aufmerksamkeit”, “logisches Gedächtnis”, “Begriffsbildung” usw. Genannt werden. Sie bilden zusammen das, was wir vorläufig den Prozeß der Entwicklung der höheren Verhaltensformen  beim Kinde nennen (Vygotskij 1992, 52).
In folgendem Zitat beschreibt Vygotskij mit größtmöglicher Genauigkeit, welch großen Unterschied er zwischen einer biogenetischen Version[1] menschlicher Entwicklung sieht, in der die Ontogenese als Wiederholung der Phylogenese angesehen wird, und seiner eigenen Idee einer Analogie zwischen Ontogenese und Phylogenese:
In der Entwicklung des Kindes sind beide Typen der psychischen Entwicklung vertreten (aber sie werden nicht wiederholt), die wir in isolierter Form in der Phylogenese vorfinden: die biologische und die historische oder die natürliche und die kulturelle Entwicklung des Verhaltens. In der Ontogenese haben beide Prozesse ihre Analogien (aber nicht Parallelen). Das ist eine grundlegende und zentrale Tatsache, der Ausgangspunkt unserer gesamten Forschung: die Unterscheidung zweier Linien der psychischen Entwicklung des Kindes, die ihrerseits den beiden Linien der phylogenetischen Verhaltensentwicklung entsprechen. Dieser Gedanke ist unseres Wissens noch nie ausgesprochen worden; dabei scheint er doch im Lichte der gegenwärtigen Untersuchungsergebnisse der genetischen Psychologie ganz offensichtlich und es ist vollkommen unverständlich, daß er bisher der Aufmerksamkeit der Wissenschaftler entgangen ist. Damit wollen wir keineswegs sagen, daß die Ontogenese in gewisser Form oder zu einem gewissen Grade die Phylogenese wiederholt oder reproduziert oder deren Parallele bildet. Wir meinen etwas ganz anderes, das man nur aus Denkfaulheit als ein Plädoyer für die Rückkehr zum biogenetischen Grundgesetz ansehen kann. ... Hier genügt der Hinweis darauf, daß wir die beiden Linien in der kindlichen Entwicklung und die beiden Linien in der Phylogenese nicht als strukturell oder inhaltlich  analog darstellen wollen. Wir beschränken die Analogie auf ein Moment: auf das Vorhandensein von zwei Entwicklungslinien sowohl in der Phylo- als auch in der Ontogenese (Vygotskij 1992, 61-62)
Auch nachdem wir Vygotskijs sorgfältige Darstellung der Begriffe vorliegen haben, müssen wir noch genauer wissen, wie im Einzelnen die zweite Linie der Entwicklung, die kulturelle und die historische, entsteht. Wir wissen, dass beide Linien weiter nebeneinander bestehen bleiben oder dass sie in einer Linie verschmelzen, je nachdem welchen Teil von Vygotskijs Werk wir zu Grunde legen.
In einem ersten Versuch der Differenzierung lässt sich vielleicht sagen, dass die erste Linie der Entwicklung die typische Entwicklung der biologischen Grundausstattung darstellt, während die zweite Linie als Entwicklung durch und in Kultur gekennzeichnet werden kann. Wir müssen aber sehr genau untersuchen, ob so etwas wie ein Demarkationskriterium zwischen den beiden Linien identifiziert werden kann. Oft wird angenommen, dass “Lernen” solch ein Kriterium wäre, das biologisch bestimmte von kulturell bestimmten Funktionen unterscheiden ließe. Lernen benötigt aber auf der einen Seite sehr spezifische biologisch bestimmte Grundvoraussetzungen, und kulturelle Entwicklung kann auf der anderen Seite nur erfolgen, wenn sie innerhalb des Individuums eine biologische Grundlage dafür findet, kulturelle Strukturen über Generationen hin zu erhalten. Gibt es vielleicht andere Kandidaten, die es uns erlauben, eine Trennung zwischen den beiden Linien vorzunehmen?

 

 

Intentionalität and geteilte Intentionalität: Ein Definitionsversuch

Intentionalität ist neuerdings zu einem Forschungsgebiet geworden, das auf beträchtliches Interesse stößt. Die Ideen und Probleme, die sich um die Entwicklung der Intentionalität herum gruppieren, geben den Versuchen verstärkt Nahrung, Vygotskijs Idee von den zwei Linien der Entwicklung in größerem Detail zu formulieren - zumindest was die “höheren” psychischen Funktionen betrifft.  In Vygotskijs Verständnis der höheren psychischen Funktionen war es entscheidend, dass nur Menschen sie haben konnten. Im Lichte der kultur-historischen Sichtweise auf Intentionalität (Tomasello 1999) und der geteilten Intentionalität (im Original: „shared intentionality“, vgl. Tomasello & Carpenter 2007) wird klar, dass es den Menschenaffen nicht gelingt, geteilte Intentionalität zu einem Teil ihrer Alltagspraxis zu machen – auch wenn es überraschend ist, wie viele Eigenschaften menschlichen Verstehens und des Verstehens von Intentionalität sie besitzen, von denen man zuvor glaubte, dass nur Menschen sie besäßen. Einige Stichworte sollen erläutern, wovon wir hier sprechen:
  • Schimpansen können sehr genau verstehen, was ein anderer Schimpanse auch aus seiner anderen Perspektive sehen kann.[2] Wenn zum Beispiel Essen auf eine Stelle zwischen zwei Schimpansen gelegt wird, wird es immer vom ranghöheren Tier genommen. Das rangniedere Tier würde niemals das Essen in Gegenwart des Ranghöheren nehmen. Wenn nun eine Blende so aufgestellt wird, dass das rangniedere Tier das Essen sehen kann und das ranghöhere nicht, nimmt das rangniedere das Essen – wohl wissend, dass das ranghöhere es nicht sehen kann (siehe Hare et al. 2001). Dies zeigt, wie weit Schimpansen zu Handlungen in der Lage sind, die man evtl. auch als bewusste Handlungen bezeichnen könnte ;
  • Im Unterschied dazu sind Schimpansen zu relativ einfach erscheinenden Gesten nicht in der Lage – wie etwa dazu, auf ein bestimmtes Objekt zu zeigen. Das referentielle Zeigen steht den Menschenaffen nicht zur Verfügung – entsprechend fragt Tomasello: “Why don’t apes point” (Tomasello 2006);
  • Schimpansen haben große Schwierigkeiten, kooperativ zusammen zu arbeiten. Melis et al. (2006) konnten zeigen, dass Schimpansen ziemlich erfolgreich bei der Lösung von Aufgaben sind, die kooperative und koordinative Fähigkeiten verlanten, wenn sie tolerant sind und keine Problem mit dem Rang des Kooperationspartners haben. Sollte es an Toleranz fehlen oder Rangprobleme geben, ist Kooperation praktisch unmöglich.

Intentionalität kann als individuelles oder als soziales Konstrukt betrachtet werden, je nachdem ob der Kontext der Tätigkeit eher ein Alleinssein oder eine Gruppensituation mit sich bringt. Die Art von geteilter Intentionalität, mit der wir uns hier beschäftigen, geht über das bloße Teilen von Zielen hinaus, das in einer Gruppensituation bestimmend sein könnte. Die geteilte Intentionalität, die Gegenstand unserer Ausführungen ist, definieren wir mit Tomasello als “zwei Personen, die das Gleiche zur gleichen Zeit erfahren und dabei beide wissen, dass dies der Fall ist” (Tomasello & Carpenter 2007a, p. 121; unsere Übersetzung). In einem neueren Beitrag über das Zeigen von Kleinkindern kommen Tomasello  et al. (2007b) zurück zu unserem Ausgangspunkt: der kindlichen Zeigegeste. Sie unterscheiden hier zwischen einer starken und einer schwachen Interpretation von protoverbalen Formen der Kommunikation (wie etwa Zeigen). Die schwache Version sieht das Kind und den Erwachsenen bloß instrumentell: das Kind will, dass der Erwachsenen irgend etwas Bestimmtes tut. Die starke Version sieht, dass das Kind versucht, die intentionalen und mentalen Zustände des Erwachsenen zu beeinflussen, indem es dabei auf der Basis des Verständnisses handelt, dass der Erwachsene ein soziales Wesen. Die starke Version fordert, dass der geteilte Kontext und seine Fähigkeit Relevantes von Nicht-Relevantem zu unterscheiden, berücksichtigt werden muss: ein gemeinsamer Grund, eine gemeinsame Basis ist dafür absolut notwendig. Dies ist ebenfalls wichtig für die Bestimmung dessen, was man “zusammen weiß.”
Geteilte Intentionalität entspringt also der grundlegenden Annahme, dass das andere menschliche Wesen “wie ich” ist (Meltzoff 2007), dass das andere menschliche Wesen ein Artgenosse ist, mit dem ich etwas Gemeinsames teile. [3]
Es ist vollkommen klar, dass die menschlichen Wesen nicht mit einer voll funktionsfähigen Fähigkeit zur geteilten Intentionalität auf die Welt kommen. Geteilte Intentionalität entwickelt sich in den frühen Jahren, wobei es immer wieder überraschend ist, wie früh Kinder bereits über gewissen Funktionen verfügen – Funktionen wie Vorläufer von Empathie oder Hilfsbereitschaft, die man als Grundvoraussetzungen für die Entwicklung von geteilter Intentionalität ansehen kann.
Wir werden im folgenden das Problem der zwei Linien der Entwicklung umformulieren und in zwei unterschiedlichen Teilen bearbeiten: in einem Teil, in dem es um kognitive Kernfunktionen und ihre Beziehung zur geteilten Intentionalität geht, und einen Teil, in dem es um Sprache und die zwei Linien der Entwicklung geht.

 

Kernfunktionen und ihre Beziehung zur geteilten Intentionalität

In diesem Abschnitt wollen wir einige bedeutsame Ideen vorstellen, die zeigen, wie eine biologische Entwicklungslinie aussehen könnte. Mit “bedeutsam” meinen wir, dass wir nicht über solche notwendigen biologischen Erfordernisse sprechen, wie die Notwendigkeit, zu essen, zu trinken und zu atmen. Wir wollen über solche psychologischen Funktionen sprechen, die wir mit unseren tierischen Vorfahren (zumindest einigen) gemeinsam haben. Möglicher Weise kommen wir so einer Beschreibung dessen näher, was Vygotskij “niedere” psychologische Funktionen genannt hat.
Ein aktuelles Beispiel für den Versuch, die Forschung auf dem Gebiet grundlegender psychischer Funktionen zusammenfassend darzustellen stammt von Spelke and Kinzler (2007). Während sich Spelkes frühere Publikationen (vgl. Spelke 2000) noch um ein einziges System drehten, wie z.B. das Zahlsystem, haben Spelke und Kinzler nun mindestens vier Kernbereiche identifiziert: die Repräsentation von Gegenständen, die Repräsentation von Agenten (handelnden Personen) und Handlungen, die Repräsentation von elementaren Zahlen und Repräsentation der Umwelt in einer Art elementarer Geometrie. Wir wollen die Grundzüge der verschiedenen Systeme im Folgenden kurz darstellen.
Das basale System, dem bis jetzt die größte Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, ist das System der Objektrepräsentation. Man kann vielleicht sagen, dass die Erforschung der visuellen Wahrnehmung in weiten Bereichen die Prinzipien aufgeführt hat, die zu diesem Bereich gehören. Stellt man beispielsweise in der Gestaltpsychologie oder in der Psychologie von James J. Gibson Fragen, wie etwa die Kohäsion von Objekten, ihre Grenzen und Konturen, wahrgenommen werden, oder wie die Wahrnehmungskonstanz und die Wahrnehmungstäuschungen zu Stande kommen, dann stellt man fest, dass es sehr viele umfangreiche Antworten auf die Frage gibt, was eigentlich das Feld der Objektrepräsentation ausmacht. Spelke weist darauf hin, dass die Eigenschaften dieses basalen Systems der Objektrepräsentation bei einem neugeborenen Menschenkind sich prinzipiell nicht von denen bei einem frisch geschlüpften Küken unterscheiden, und dass diese Eigenschaften so gut wie unverändert im Verlauf des Erwachsenenlebens bleiben, so dass man davon sprechen kann, dass das System der Objektrepräsentation im Verlauf der Entwicklung der Menschen unverändert bleibt. Diese Eigenschaft der Objektrepräsentation ist in Übereinstimmung mit dem Ergebnis bei einer Untersuchung an Säuglingen, etwa in den Experimenten von Karen Wynn (1992, 1995), die offensichtlich ein beträchtliches physikalischen Wissen besitzen, ohne jemals die Gelegenheit gehabt zu haben Objekte zu berühren und mit ihnen zu hantieren – ganz einfach, weil der Stand ihrer motorischen Entwicklung ihnen das noch nicht erlauben würde. Das steht in einem gewissen Kontrast zu der generellen Sichtweise Piagets über die Ontogenese physikalischen Wissens, die ja extensive Manipulation von Objekten als Voraussetzung für die Entwicklung entsprechender Strukturen voraussetzt.
Das basale System der Repräsentation von Handelnden und deren Handlungen scheint sich zunächst weitgehend mit dem System der Objektrepräsentation zu decken – wenn man etwa an die Ursachen für Bewegungen und Ähnliches denkt. Schon ganz kleine Kinder interpretieren jedoch soziale und nicht-soziale Handlungen unterschiedlich, z.B. interpretieren Säuglinge die Bewegung eines Objekts nicht als zielgerichtet und sie versuchen nicht solche Bewegungen zu imitieren. Diese Art der Repräsentation kann man auch bei frisch geschlüpften Küken finden, bei neugeborenen Affen usw. Spiegelndes Verhalten, von entsprechender Aktivität der Spiegelneuronen begleitet, erscheint als wichtige und phylogenetisch frühe Errungenschaft adaptiven Verhaltens.[4]
Das basale Zahlsystem ist vielleicht das abstrakteste der verschiedenen Kernsysteme. Wir sollten daran denken, dass wir hier über Zahlen bis fünf sprechen, plus oder minus zwei. Für menschliche Säuglinge, Kinder und Erwachsene und für nicht-menschliche Primaten hat das Zahlsystem die gleiche dreifach bestimmte Eigenschaft: erstens, Repräsentationen von Zahlen sind nicht exakt und sie werden immer weniger exakt, je größer der Wert der Kardinalzahl (skalare Variabilität); zweitens, Repräsentationen von Zahlen sind abstrakt insofern sie sich auf verschiedene Entitäten beziehen können – auf Steine, auf Äpfel, auf Autos und Pferde, auf Folgen von Lichtsignalen und auf Handlungsfolgen; drittens, Zahlsysteme können miteinander verglichen werden und können durch die Operationen der Addition und Subtraktion miteinander kombiniert werden. Diese Eigenschaften scheinen in allen bekannten menschlichen Kulturen vorzukommen – ob sie nun Zahlwörter für mehr als drei haben oder nicht.



Abbildung 1: Basale Funktionen und geteilte Intentionalität
Das letzte Kernsystem schließlich hat mit der Orientierung und der Lage in der Geometrie der Umgebung zu tun. Wenn Kleinkinder, Kinder oder Erwachsene ihre Orientierung verlieren, beginnen sie sich an Hand von Größen der Oberfläche der Umgebung neu zu orientieren, wie z.B. an Hand der Entfernung, der Winkel, des Richtungssinns. Orientierungspunkte in der Landschaft spielen für Erwachsene im Fall der verlorenen Orientierung eine viel bedeutendere Rolle.
Wenn wir versuchsweise eine fünfte Dimension hinzufügen, bei der es um die Identifizierung und Interaktion, Erkennen und Auseinandersetzung mit Mitmenschen und sozialen Partnern, dann erhielten wir das folgende Bild, in dem wir die verschiedenen Funktionen einmal als Ebenen darstellen.  Diese Darstellung in Abbildung 1 ist auch ein Versuch, aufzuzeigen, dass die weitere Entwicklung dieser basalen Systeme oder Kernfunktionen nicht erfolgen kann und wird, wenn sie nicht auf der gemeinsamen Basis geteilter Intentionalität erfolgt.
Es stellt sich nun die Frage, wie es die geteilte Intentionalität möglich macht, die Kernfunktionen zu beeinflussen und weiter zu entwickeln. Der Versuch einer Antwort ist in Abbildung 2 dargestellt: die soziale Semiose der Lebenspraxis lässt sich als Vermittlung zwischen der geteilten Intentionalität und den basalen Funktionen verstehen und führt zu einer vollen Entwicklung dieser Systeme – und verwandelt sie so in die kulturelle Linie der Entwicklung.

Abbildung 2: Kernfunktionen, geteilte Intentionalität und soziale Praxis
Unsere zentrale These lautet deshalb, dass zuallererst diejenigen Prozesse, die Ihren Ursprung in der geteilten Intentionalität haben bzw. für die die geteilte Intentionalität ein Indikator ist, eine Weiterentwicklung der aufgezeigten basalen Systeme ermöglichen. In Abbildung 2 haben wir deshalb eine Vermittlungsebene eingefügt: die kooperative Lebenspraxis als Ort sozialer Semiosen. Diese dritte Ebene bildet das Bindeglied zwischen der individuellen Entwicklung und dem sozialen Kontext, in den sie eingebettet ist, und sie konstituiert unseres Erachtens das, was Vygotskij als zweite, kulturelle Linie der Entwicklung konzipiert hat. Im folgenden Abschnitt soll diese These noch einmal aus einem Blickwinkel beleuchtet werden, in dem der Begriff der kulturellen Lebenspraxis ebenfalls einen zentralen Stellenwert einnimmt und in dem das auch von Vygotskij als wesentlich angesehene semiotische Medium Sprache die zentrale Rolle spielt.

 

Kooperation, Sprache und Entwicklung

Das menschliche „Sharing of intentions“ ist mehr als bloßes Zusammenwirken auf ein gemeinsames Ziel hin, denn es findet statt vor dem Hintergrund einer Lebenspraxis, die sprachlich strukturiert ist. Wenn wir in Abbildung 2 die neue Ebene der Lebenspraxis also mit Inhalt füllen wollen, müssen wir sie gewissermaßen in eine „sprachliche Hülle“ einbetten, die die Akteure wie die Atemluft umgibt. Denn die kulturelle Lebenspraxis wird durch das bewusste Handeln der Erwachsenen konstituiert. Dies gilt auch für das Handeln, das sich auf das Gedeihen des Säuglings bezieht. Insofern kann man sagen, dass das, was Wittgenstein mit „Sprachspiel als Lebenspraxis“ bezeichnet hat, dem entspricht, was Vygotskij als höhere psychische Funktionen bezeichnete: bewusste Aufmerksamkeit, bewusstes Wissen (z.B. über das für den Säugling Nützliche), bewusster Einsatz der  zur Pflege und Ernährung notwendigen Mittel[5]. Insofern ist die Interaktionen zwischen Säugling oder Kleinkind und Erwachsenen in ein bewusstes, sprachlich durchdrungenes Geschehen eingebettet, egal ob wir es Erziehungsphilosophie oder „intuitiv parenting“ nennen, denn trotz aller intuitiver Reaktionsformen, wie z.B. Tonhöhe oder Nähe und Distanzregelung, bestimmen die bewussten Dimensionen des Handelns die Interaktion – seien sie religiös, wissenschaftlich oder familiär begründet.  Dies dürfte von niemand bestritten werden.
Wenn es sich aber um wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten handelt, was bringt der Rückgriff auf Wittgenstein und die Philosophy of Mind? Wir meinen, dass dieser Blickwinkel ein anderes, vielleicht ein etwas klareres Licht auf  die Entwicklung der Bedeutungen wirft, wie sie Kinder gegen Ende des ersten und im Verlauf des zweiten Lebensjahres lernen. Dies soll im Folgenden kurz erläutert werden, weil damit auch die Vygotskijschen Thesen von der Entwicklung der höheren psychischen Funktionen an Überzeugungskraft gewinnen.
Eine wichtige Konsequenz des Blicks von Wittgenstein und seinen Nachfolgern auf das Thema Bedeutung (im Überblick: Wellmer, 2006) lässt sich in einer Analyse von Formulierungen zeigen, wie man sie in der kognitionsorientierten Entwicklungspsychologie findet. Wir greifen dazu exemplarisch auf die schon referierte Position von Elizabeth Spelke zurück, d.h. auf die von ihr postulierten vier bzw. fünf Kernfunktionen (Gegenstände, Handlungen, Zahlen, Umweltgeometrie - und nicht zuletzt: Mitmenschen). Wir zitieren hier als Beispiel die Beschreibung des Systems der Gegenstandsrepräsentationen:
„It centers on the spatio-temporal principles of cohesion (objects move as connected and bounded wholes), continuitiy (objects move on connected, unabstructed paths), and contact (objects do not interact at a distance)“ (Spelke & Kinzler, 2007, 89).
Über diese Fähigkeiten verfügen sowohl gerade geschlüpfte Kücken wie menschliche Babys. Beide können sich bewegende Objekte ohne Vorerfahrungen identifizieren. Allerdings scheint aber die nach der Geburt einsetzende Erfahrung mit Gegenständen nicht automatisch und sofort zu einer differenzierten Objektklassifikationskompetenz zu führen. Die zahlreichen Untersuchungen, insbesondere von T.G.R. Bower und Mitarbeitern (vgl. z.B. Wishart & Bower, 1984, 1985), zur Frage nach der Entwicklung von Objektidentität und Objektpermanenz (für Bower folgt Erstere der Letzteren, für Piaget ist Erstere die Voraussetzung für Letztere) zeigen frühe objektbezogene Kompetenzen der Babys: Gegenstände werden im Hinblick auf Textur, Form, Bewegungsdynamik unterschieden; auch verdeckte Gegenstände werden gesucht, wenn sie nur teilweise verdeckt sind; von verschwindenden Gegenständen erwarten Kinder, dass sie wieder auftauchen. Piagets berühmter A/nichtB-Fehler bleibt jedoch trotz aller Kompetenzen bis zum Ende des ersten Jahres bestehen, bei dem die beobachteten Kinder die Gegenstände, die sichtbar bei A versteckt werden, um dann ebenso sichtbar von A nach B verlagert zu werden, bei A und nicht zuerst bei B suchten, obwohl sie deren Verschwinden bei B genau gesehen hatten.
Entscheidend scheint hier die Verwendung des Objektbegriffs zu sein. In den Untersuchungen von Spelke, Bower und Kollegen hört sich das so an, als könne das Kind Objekte erkennen. De facto erkennt das Baby aber Differenzen in der Objektwelt zwischen unterschiedlichen Versuchsanord­nungen, in denen Objekte bzw. Objektmerkmale eine diskriminierende Rolle spielen, und es bringt diese Erkenntnis durch entsprechende Reaktionen zum Ausdruck, entweder durch Präferenz von zwei konkurrierenden Reizmustern oder durch Habituation und Dishabituation. Die Qualifikation des Wahrgenommenen mit dem Begriff „Objekt“ ist unserem erwachsenen Bewusstsein und unserem sprachlich strukturierten Denken geschuldet.
Zwar ist allen Beteiligten klar, dass die Kinder weniger differenziert wahrnehmen können als Erwachsene. Die Unterschiede zwischen kindlichen Kompetenz- und Wissenssystemen und denen der Erwachsenen werden allerdings nicht als qualitative Differenz, sondern nur als gradueller Unterschied gesehen, der zwar eines Komplexitätszuwachses bedarf, den man aber als bloße Anreicherung einer von Anfang an bestehenden Sicht auf eine dreidimensionale, raum-zeitlich stabile, vom Kind unabhängige Objektwelt interpretieren kann.
Könnte man dazu sagen, dass dies den frühen Vorstellungen Vygotskijs entspräche? Die natürliche Entwicklungslinie würde den Säugling mit objekt- und personenbezogenen Kompetenzen ausstatten, die dann über ihre Nutzung sukzessiv angereichert und dadurch entwickelt würden, bis sie schließlich das erwachsene Niveau erreicht hätten. In den angeborenen Wissenssysteme eines modular aufgebauten neuronalen Systems fände man damit wesentliche Erklärungsmuster für die beobachtbare psychische Entwicklung, was natürlich die Rolle der gegenständlichen und sozialen Umwelt für den erfolgreichen Verlauf dieses Prozesses keineswegs ausblenden würde. Die Struktur dessen, was sich da entwickelt fände sich jedoch in diesen Kernen, so wie im Apfelkern letztlich die Struktur des Apfelbaums ruht, denn auch der entwickelt sich ja nicht überall und nicht ohne Zutun der Umwelt und den menschlichen Züchtungsanstrengungen.
Mit der sozialen Interaktion und der Sprache verhielte es sich dann ebenso: beginnend mit den frühen Imitationsprozessen, der Präferenz menschlicher Gesichter und Stimmen sowie dem Erkennen der menschlichen Mimik und der Produktion von Lauten mit unterschiedlichem Entwicklungsniveau und unterschiedlicher Adaptation an die Umgebungssprache (hier insbesondere der Chomskyschen Universalien) fänden wir die Bausteine für die Entwicklung. Die Natur würde damit gewissermaßen den Baustoff und den Bauplan für diese Entwicklung zur Verfügung stellen und die kulturelle Linie würde dann die dazu notwendigen Nährstoffe und Rahmenbe­ding­ungen schaffen, damit sich diese Anreicherung erfolgreich vollziehen kann.
Wäre das ein Modell für Vygotskijs zwei Linien der Entwicklung? Wir glauben, dass Vygotskij dem so nicht zustimmen würde.
Bevor wir jedoch auf Vygotskij zurückkommen, wollen wir versuchen, die terminologischen Probleme um den Objektbegriff  unter Zuhilfenahme aktueller Debatten in der analytischen Philosophie etwas zu erhellen. Wir wollen zeigen, dass das Modell der kognitiven Entwicklungspsychologie mit der graduellen Entwicklung vom einfachen zum komplexen Objektbegriff nicht zu Ende gedacht ist. Kern der Debatte ist der Bedeutungsbegriff und die Frage, wie man Bedeutungen definieren kann und wie sie sich entwickeln.
Die Frage nach der Entwicklung von Bedeutungen ist eng mit der Verwendung des Objektbegriffs gekoppelt: Wann ist es gerechtfertigt, eine Wahrnehmung als Objektwahrnehmung zu bezeichnen? Wann ist das, was hier als basales Wissenssystem beschrieben wird, objektbezogenes Wissen (die schwache Variante) und wann Wissen über Objekte (die starkte Variante)? Und wie steht der hier verwendete Objektbegriff mit dem von Piaget in Beziehung, der Objekte als raum-zeitliche, in Form, Farbe, Lage und Beschaffenheit abgrenzbare Artefakte (oder Lebewesen) bezeichnet hatte, die zu meinen Handlungen in einer eigenständigen Beziehung stehen?
Die in der Literatur verwendeten begrifflichen „Minaturisierungsversuche“ wie „Protowissen“ oder „Vorläufer des Objektbegriffs“ erwecken den Eindruck, hier wären gewissermaßen schon alle Zutaten zur Entwicklung des Endprodukts vorhanden. Die Philosophy of Mind und die Debatte um die Möglichkeit einer Privatsprache zeigen jedoch, dass der Objektbegriff und der Name für ein Objekt unentwirrbar miteinander verkoppelt sind (vgl. dazu Kripke, 1987, streng genommen kann man aus dieser Perspektive eigentlich nicht von der Bildung averbaler Begriffe sprechen[6]).
Hören wir uns Donald Davidson an, der sich mit der Frage beschäftigt, wie Dinge oder Objekte zu einem Namen kommen oder sich unter einem Begriff subsumieren lassen (Davidson, Donald (2006). Bedingungen für Gedanken. In: ders.,  Probleme der Rationalität. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 233-256. Original:  What Thought Requires. In J. Branquinho (Ed.) The Foundations of Cognitive Science, Oxford University Press, 2001).
„Dass man einen Begriff hat, heißt, dass man Dinge darunter subsumieren kann. Das ist nicht bloß davon abhängig, dass man von Geburt aus dazu disponiert ist oder gelernt hat, in bestimmter Weise auf Sachen zu reagieren, die unter einen Begriff fallen, sondern es heißt: urteilen oder glauben, dass bestimmte Sachen unter diesen Begriff fallen. Wenn man das nicht als Bedingung für das Haben eines Begriffs auffasst, wird man die schlichte Neigung, Beeren zu essen, Wärme zu suchen oder Kälte zu meiden, als Begriffe der Beere, der Wärme oder der Kälte behandeln müssen. Ich nehme an, dass wir Regenwürmer und Sonnenblumen nicht als Wesen ansehen wollen, die Begriffe haben. Das wäre ein terminologischer Fehler, denn damit würde man einen grundlegenden Unterschied aus dem Auge verlieren, nämlich den Unterschied zwischen der gedankenlosen Disposition, auf die verschiedenen Elemente einer Klasse von Reizen verschieden zu reagieren, und der Disposition, auf diese Sachen als Elemente dieser Klasse zu reagieren.“(237)
Das, was Davidson hier für Begriffe formuliert, kann man nach unserer Einschätzung durchaus auch auf die Verwendung des Wortes „Objekt“ für die Wahrnehmung des Kindes heranziehen, denn die Spelkeschen Experimente sagen aus, das Kind könne das Objekt X oder Y wahrnehmen. Sie suggerieren damit, das Kind verfüge über einen Objektbegriff wie Erwachsene, nur sei er nicht so entwickelt und reichhaltig. Die kognitiven Entwicklungs­psychologen übersehen den von Davidson herausgestellten Unterschied zwischen der Erfassung eines Objekts (bzw.  der Merkmale eines Objekts) und der Erfassung eines Objektes als Ganzes und damit als Element einer Klasse.
Der Unterschied besteht zwischen der Fähigkeit,ein Objekt zu erkennen“, und der Fähigkeit, „ein Objekt als eigenständiges Objekt zu erkennen. Dieser kleine aber wesentliche Unterschied ist schwer zu begreifen. Im ersten Fall reagiert das Kind auf bestimmte Muster, auf Ähnlichkeiten zwischen Mustern und auf bestimmte Merkmale von Objekten, wie sie systematisch in Verbindung mit dem Hantieren mit Objekten auftauchen, insbesondere, wenn man sie experimentell als solche isoliert. Die Experimentatoren, die gewissermaßen den objektiven Beobachter­standpunkt beziehen, schlussfolgern aus diesen Reaktionen, dass das Kind ein Objekt wahrnehmen könne, weil es auf bestimmte Merkmale des Objekts reagiert, z.B. seine Bewegungsdynamik. Das hinter einem Schirm verschwindende „Objekt Elefant“ taucht dann unter Umständen in der gleichen Geschwindigkeit wieder als „Objekt Ente“ hinter dem Schirm auf, und das Kind kann das Reizmuster, das sich in konstan­ter Bewegung befindet, als Bewegungsmuster erkennen und dessen Bahn antizipieren. Form, Farbe, Objektbeschaffenheit oder Objektklasse sind für das Kind irrelevant. Unserer Meinung nach werden hier keine Objekte, sondern unterschiedliche Merkmale von Arrangements mit Objekten erfasst.
Mit Hilfe von Habituationsexperimenten kann man z.B. zeigen, dass 10 Monate alte Babys auf Ähnlichkeiten bei Zeichnungen von Phantasietieren, die in Gruppen mit ähnlichen Beinen, Hälsen, Schwänzen usw. gruppiert sind, systematisch Bekanntes von Neuem unterscheiden können (gemessen an der Fixationsdauer!). Sie erkennen also Bekanntes und Neues bei unterschiedlichen Präsentationen und können damit schon bestimmte visuelle Klassifizierungs­leistungen vollbringen (Younger & Cohen, 1983). Die Autoren sprechen dabei von korrelativer Begriffsbildung, andere sprechen von Kategorisierungsprozessen, hier ein Zitat aus einem aktuellen Lehrbuch:
„Findings reveal that 6- to 12-month-olds structure objects into an impressive array of meaningful categories – food items, furniture, birds, animals, vehicles, kitchen utensils,plants, spatial location („above“, „below“, „on“, and „in“), and more (....). Besides organizing the physical world, infants of this age also categorize their emotional and social worlds. Their looking responses reveal that they sort people and their voices by gender and age (....), have begun to distinguish emotional expressions, and can separate peoble’s natural movements from other motions (....). The baby’s earliest categories are perceptual – based on similar overall appearance of prominent object part, such as legs for animals and wheels for vehicles. But by the second half of the first year, more categories ar conceptual – based on common function and behavior.“ (Laura E. Berk, 2006, 228/229)
Die Antwort der Kinder durch Präferenzen in der Wahrnehmung wird erst nach dem 12. Monat durch aktive Klassifikationsformen abgelöst. Jetzt können die Kinder Klassifika­tionsaufgaben schon besser verstehen und berühren zusammengehörende Objekte. Mit 18 Monate können sie dann ähnliche Objekte auch aktiv zusammen in zwei Klassen einordnen. Piaget würde sich freuen, denn genau das hatte er ja herausgefunden: wenn die symbolische Ebene (bei ihm war es die nichtsprachliche Vorstellung) etabliert ist, dann ist die Objektpermanenz hergestellt, d.h. die Kinder können mit den Vorstellungen auf der geistigen Ebene operieren. Vygotskij hielt dazu die sprachlichen Mittel für unerlässlich. Wir schließen uns dieser Position in Verbindung mit der Philosophy of Mind an.
Wir sind nicht der Meinung, Kinder seien nicht zu den kognitiven Leistungen in der Lage, die als averbale Begriffsbildung bezeichnet werden. Wir sind nur mit Wittgenstein und Davidson der Meinung, dass das, was das Kind zeigt nichts mit Begriffsbildung zu tun hat oder nicht so bezeichnet werden sollte, weil an Begriffe andere Kriterien anzulegen sind als an nonverbale Klassifikations­prozesse, die sich auf der Verhaltensebene zeigen, weil das Wahrnehmungs­angebot so gestaltet war, dass die Kinder ihre sensumotorischen Fähigkeiten zur Erkennung von Ähnlichkeiten und Unterschieden hier systematisch zeigen konnten.
Für Wittgenstein ist die Fähigkeit der Rekonstruktion der Objekte als Objekte im Raum auf der Vorstellungs­ebene ohne sprachliche Repräsentation nicht denkbar. Erst mit Hilfe bewusster Prozesse können wir uns Objekte als eigenständige Objekte vorstellen, und dazu ist Sprache die conditio sine qua non. Wittgenstein und seine Nachfolger in der Analytischen Philosophie arbeiten diesen Unterschied sehr präzise heraus, indem sie begründen, warum ein Begriff nicht durch eine assoziative Koppelung mit einem Vorstellungsbild zustande kommen kann: Es wird nicht erst eine Zuordnung Wort-Ding vorgenommen und dann eine Regel festgelegt, dass dieses Wort als Substantiv zu gebrauchen wäre, wie manche entwicklungspsychologischen Modelle postulieren. Vielmehr setzt diese Zuordnung die symbolische Durchdringung der ganzen Handlungsszene schon voraus, in der das Wort geäußert wird. Ohne das Verstehen von ganzen Sätzen, die in einer Kommunikationssituation geäußert werden, gibt es keine Bedeutung von Wörtern und demnach auch keine Zuordnung von Objekt und Begriff. Dies gilt auch für die Phase der sogenannten Einwortsätze des Kleinkindes, worauf wir unten ausführlicher zu sprechen kommen. Wittgenstein bringt den Gedanken der Einbettung der Wortbedeutung in einen komplexeren Kontext in folgenden Passagen des Blauen Buches zum Ausdruck:
„Der Fehler, zu dem wir neigen, könnte folgendermaßen ausgedrückt werden: Wir suchen nach dem Gebrauch eines Zeichens, aber wir suchen nach ihm , als ob er ein Gegenstand wäre, der mit dem Zeichen in Koexistenz ist. (Einer der Gründe für diesen Fehler ist wiederum, dass wir nach einem „Ding“ suchen, „das dem Substantiv entspricht“). Das Zeichen (der Satz) erhält seine Bedeutung von dem System der Zeichen, von der Sprache, zu dem es gehört. Kurz: Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen.“ (Das blaue Buch, 1984, 19 ff, zitiert nach Wellmer, 2006, S.54);
In den Philosophischen Untersuchungen heißt es:
„Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes Bedeutung - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dies Wort so erklären: die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ (Wittgenstein, PU, § 43)
Begriffe entstehen im sozialen Verkehr als Verallgemeinerungen von Kooperations- und Kommunikationserfahrungen und sie sind durch ihre Beziehungen zu anderen Begriffen definiert. Ein Begriff setzt deshalb immer ein komplexes sprachliches Gefüge voraus, ohne das er nicht existieren kann, auch wenn es zunächst so aussieht, als könne mit dem Zeigen auf ein Objekt und dessen Benennung mit einem Namen die Entstehung von Begriffen erklärt und verstanden werden. Doch dieser einfache deiktische Akt oder der Satz „das ist ein Baum“, wird nicht verstanden, wenn der Adressat die Funktion der Benennung von Gegenständen oder die Zeigegeste oder die Wörter „das“ und „ist“ und „ein“ nicht kennt. Zudem sind die meisten Begriffe unserer Sprache, wie z.B. die eben zitierten, durch hinweisende Gesten gar nicht zu vermitteln. Auch das gestische Zeigen auf einen Baum, um diesem einen Namen zu geben, erfüllt nur dann seinen Zweck, wenn der Adressat der Geste das Zeigen als kommunikative Handlung schon beherrscht. Und auch dann ist es immer noch relativ schwer zu entscheiden, ob der Zeigende auf Baum, Borke, Krone, Vogel oder auf etwas hinter dem Baum Verborgenes zeigt.
Selbst wenn man sich ausdenkt, es gäbe einen kognitiven Prozess, in dem sich ein Kind einen averbalen Begriff von einem Objekt oder einem Lebewesen, z.B. der Mutter, gebildet und ihn dann mit einer Lautsequenz verbunden hat, muss es erst eine kommunikative Verwendungssituation erfahren haben, in der das verbale Gebilde „Mama“, das auf das averbal erfasste „Objekt“ bzw. Lebewesen passt, seine kommunikative Funktion erhält: Mama herbeirufen, auf Mama verweisen, von Mama erzählen etc.. Das Verstehen von „Mama“ ist deshalb immer ein Verstehen der gesamten Kommunikationssituation, in der dieses Wort geäußert wurde und identifiziert werden konnte. Und die aktive Äußerung von „Mama“ hat ebenfalls die komplexe Bedeutung des gesamten Kommunikationsaktes: Mama begrüßen, auf Mama zeigen, Mama herbeirufen etc.
Insofern sind diese ersten „Mama-Äußerungen“ keine Begriffe für das „Objekt Mutter“ im Sinne referentieller Akte, obwohl natürlich in der Äußerung von „Mama“ referentielle Komponenten enthalten sind[7]. In der sehr viel umfassenderen Gesamtbedeutung der Äußerung „Mama“ bilden diese referentiellen Komponenten gewissermaßen „den Leitstrahl“, der die spätere Entwicklung der Bedeutung des einzelnen Wortes „Mama“ aus der komplexen Bedeutung der Äußerungen in den Kommunikations­situationen heraus lenkt und dabei „Plätze“ für andere differenzierte Wortbedeutungen öffnet[8]. Für die Leitstrahl-Metapher könnte man auch Vygotskijs Begriff von der „Zone der nächstfolgenden Entwicklung“ verwenden, denn es sind hier die Erwachsenen, deren Interpretationen (im Sinne von Blooms „rich interpretation“) die Bedeutung der Äußerung des Kindes externalisieren und dem Kind so die Bedeutung seiner Äußerung in der ausführlichen Fassung präsentieren – sozusagen den „director’s cut “.[9]
Für das die Sprache lernende Kind ist das die entscheidende Größe, weil die Interpretation der von ihm geäußerten Wörter deren Bedeutung entwickelt. Der Unterschied zwischen den Bedeutungen der Sprache in den kindlichen Äußerungen und den Bedeutungen dieser oder ähnlich klingender Äußerungen in der Sprache der Erwachsenen führt einerseits zur Möglichkeit der Identifikation sprachlicher Elemente mit bestimmten Handlungstypen und Situationsmerkmalen durch das Kind. Andererseits gibt der Einwortsatz den Erwachsenen Hinweise, auf welche gemeinsamen Handlungen das Kind hinweisen will. Denn die Erwachsenen interpretieren die Einwortsätze im Allgemeinen so, wie sie vom Kind intendiert sind: als Sätze mit komplexen Bedeutungen: Die Äußerung „Mama“ in einer bestimmten Situation wird von dieser verstanden als „Schau mal Mama, was für ein großer Vogel!“ Die Bedeutungsunterschiede der Äußerung „Mama“ zwischen kindlicher Holophrase und dem Gebrauch desselben Wortes in der Erwachsenensprache konstituieren insofern die Dynamik des Spracherwerbsprozesses. Dabei sind beide Prozesse von entscheidender Relevanz für das Gelingen:
  • die aktive kindliche Pars-pro-toto-Verwendung eines Wortes mit der Bedeutung einer komplexen sprachlichen Äußerung,
  •  die elterliche Interpretation dieser Äußerung, die zum Gelingen der Kommunika­tionsabsicht des Kindes führt und dadurch der Äußerung des Kindes im Gebrauch auch die vom Kind intendierte Bedeutung gibt, d.h. es gibt weder eine Korrektur noch ein Nichtverstehen der kindlichen Konstruktion.  

Das gleiche Wort („Mama“) existiert damit eine Zeit lang gewissermaßen in der Kommunikationspraxis mit zwei Bedeutungen

  •  auf Seiten des Kindes als komplexer Satz mit verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten, denn je nach Situation bedeutet „Mama“ etwas anderes,
  • auf Seiten der Eltern als einzelner Bestandteil einer komplexen Äußerung, der über die gemeinsame kooperative Handlungserfahrung mit den Kommuni­kations­intentionen des Kindes gekoppelt wird

Das gemeinsame, erfolgreiche „Leben dieser zwei Bedeutungen“ in der sozialen Praxis, oder wie Vygotskij sagen würde „im sozialen Verkehr zwischen den Individuen“, ist die Basis für die Bedeutungsentwicklung und Bedeutungskonstitution auf Seiten des Kindes – wobei die anfängliche Mehrdeutigkeit der Wörter ja keineswegs völlig verschwindet, sondern das Besondere der Sprache mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Bedeutungen und im wechselseitigen Verstehen ausmacht – und die Basis für Metaphorik und andere kreative Anwendungen darstellt.
Wir können deshalb festhalten, dass, beginnend bei der Zeigegeste, Sprache und Bedeutung nur im sozialen Gebrauch, d.h. im Kommunikationsprozess, psychologisch einen Sinn machen. Dieser Sinn ergibt sich für das Kind nicht aus der Zuordnung irgendwelcher objekt- oder personenbezo­genen Merkmalskomplexe zu Zeichen, sondern aus der langen Erfahrung des Handelns in gemeinsamen Handlungsprozessen mit kompetenten Sprechern und Akteuren, in denen man seine Ziele verwirklichen konnte und sich dabei auch etwas zu zeigen und etwas zu sagen hatte. Basis dieser gemeinsamen Erfahrung sind die Ausstattung des Säuglings mit der Fähigkeit zum „sharing of intentions, sharing of actions, sharing of emotions“. Auf dieser Grundlage machen Handlungssituation und Kommunikationsabsicht als Ganzes und damit alles, was zum relevanten Kontext gehört (Ort, Zeit, Partner, Absicht, Vorgeschichte, Zielsetzung des Diskurses etc.) die Bedeutung einer Äußerung aus, egal ob dabei nur eine einzelne Zeigegeste oder ein einzelnes Wort sichtbar oder hörbar sind. Insofern folgt die Produktion eines „Einwortsatzes“ durch das Kleinkind den gleichen Prinzipien wie die alltägliche Diskursproduktion eines Erwachsenen oder eine völlig neue, metaphorische Verwendung eines Begriffs in Poesie oder Wissenschaft.
Damit sind Spelke und die oben genannten Kompetenzen des Kindes nicht falsifiziert. Im Gegenteil: Wir schlagen eine begriffliche Differenzierung im Lichte unserer zwei Entwicklungslinien vor:
Der menschliche Säugling verfügt über ein phylogenetisches Erbe, das Entwicklungs­prozesse in zwei Lebensbereichen ermöglicht:
  • Gegenüber der Objektwelt ist er in der Lage - entgegen den Piagetschen Thesen – auch nach Dingen zu suchen, die ihm aus der Hand geglitten sind oder die er aus anderen Gründen nicht mehr sieht, weil es so etwas wie einen „crossmodal transfer“ gibt. Er ermöglicht dem Säugling von einer Sinnesmodalität auf die andere zu „schließen“ bzw. die Sinnesmodalitäten wirken zusammen. Zu diesem Bereich gehören auch die von Spelke und anderen herausgearbeiteten „core systems“, nur würden wir sie nicht „knowledge systems“ nennen, weil wir den Wissensbegriff für explizites, bewusstseinsfähiges Wissen reservieren würden.
  • Für die Interaktion in der sozialen Umwelt ist der Säugling mit einer Reihe von erstaunlichen Kompetenzen ausgestattet, die ihn nicht nur in die Lage versetzen, auf soziale Signale und Zuwendung angemessen zu reagieren. Er verfügt auch über eine Reihe von Verhaltenssystemen, die seine soziale Umwelt zur Inter­aktion geradezu herausfordern: er lächelt, er lautiert, er stellt Blickkontakt her, er imitiert die Mimik der Erwachsenen, er weint oder brüllt herzzerreißend und lässt sich von der Stimme oder der Berührung beruhigen.

Auch wenn man die sharing-Mechanismen zu den biologisch prädisponierten Basis-Kompetenzen rechnet, sollte man sich deshalb vergegenwärtigen, dass sich aus den basalen Voraussetzungen nicht qua Anreicherung durch Einbettung in ein soziales oder kulturelles Milieu linear und quasi automatisch die psychische Entwicklung zu den höheren psychischen Funktionen vollzieht. Es bedarf des bewussten „Eingriffs“ in den Prozess in Form von sprachlich strukturierten Kommunikations-, Kooperations- und Bewertungshandlungen. Entscheidend ist demnach zweierlei: die Sprach- und Interpretationsgemeinschaft mit der von ihr konstituierten sozialen Praxis als „kultureller Atmosphäre“ und die konkrete mit dem Kind konfrontierte Person mit ihren durch diese Praxis geprägten Einstellungen, Werten und Erfahrungen. Die Sprache und die damit verbundene kulturelle Lebenspraxis sind insofern sowohl Medium und Milieu als auch konkretes Instrumentarium, in dem und durch das sich die höheren psychischen Funktionen entwickeln, und zwar nach unserer Auffassung genau so, wie Vygotskij das skizziert hat: vom Interindividuellen zum Intraindividuellen. Mit anderen Worten: Das Sprechen für den Anderen zur besseren Organisation von sozialen Beziehungen in der Welt wirkt auf das sprechende Subjekt zurück, weil die sensorisch und motorisch verfügbare Welt (und die diesbezügliche Erfahrung) mit einem neuen Medium organisiert werden kann, das anders als das episodische oder prozedurale Gedächtnis einzelne Prozessmerkmale verfügbar, neu kombinierbar und neu konstruierbar macht, für den anderen wie für mich selbst: Bewusstsein als Sprachspiel, als Medium der Lebenspraxis.

Abschlussbemerkung

Unsere zentrale These lautete, dass diejenigen Prozesse, die Ihren Ursprung in der geteilten Intentionalität haben bzw. für die die geteilte Intentionalität ein Indikator ist, eine Weiterentwicklung der aufgezeigten basalen Systeme ermöglichen. Wir haben gezeigt, dass man der These unter der Prämisse zustimmen kann, dass die Potenz der geteilten Intentionalität nur in Verbindung mit komplexen, in kulturell strukturierte Kommunikations­prozesse eingebundenen gemeinsamen Handlungen zum Tragen kommen kann. Um diese Potenzialität zu entfalten bedarf es beider Komponenten, oder mit Vygotskijs Worten, beider Entwicklungslinien: Die basalen, zum großen Teil vermutlich angeborenen kognitiven, emotionalen und sozialen Wahrnehmungs- und Interaktionsmechanismen – neben den oben ausführlich referierten kognitiven Systemen müssen hier auch die auf Bindung und soziale Interaktion hin ausgerichteten sozio-emotionalen Basiskompetenzen genannt werden – schaffen die Voraussetzungen, dass der Säugling die von seinem sozialen Umfeld organisierten Unterstützungsaktionen als solche erkennt und sich mit wachsendem Handlungsinstrumentarium an der Zusammenarbeit beteiligt. Das „sharing of intentions“, d.h. das Motiv zum gemeinsamen Handeln stellt gewissermaßen die Schaltstelle dar, an der sich individuelle Voraussetzungen und die kulturellen Bedeutungen der Lebenspraxis treffen und zur Konstitution der höheren psychischen Funktionen führen.

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[1] Die biogenetische Perspektive ging davon aus, dass jede der aufeinanderfolgenden Stufen der Entwicklung eines biologischen Individuums eine Stufe der Erwachsenenform in der phylogentischen Entwicklung darstellt. Haeckel formuliert das Schlagwort: Die Ontogenese ist eine Rekapitulation der Phylogenese! Die Rekapitulationstheorie diente im 19. Jahrhundert auch als Modell für die Lehrplanentwicklung. Danach beschäftigten untere Klassen sich vorzugweise mit archaischen Stufen der kulturellen Entwicklung während in den höheren Jahrgängen moderne Zeiten zum Gegenstand genommen wurden. In den Worten von Herbert Spencer (1885) ausgedrückt: “If there be an order in which the human race has mastered its various kinds of knowledge, there will arise in every child an aptitude to acquire these kinds of knowledge in the same order.... Education is a repetition of civilization in little.” 
[2] Man könnte also etwas überspitzt formuliert sagen, dass Schimpansen bestimmte Aspekte des Drei-Berge-Versuchs von Piaget durchaus lösen könnten (wer sieht was, wer sieht was nicht), den dieser Kindern vorgelegt hatte um herauszufinden, ob sie sich noch in der egozentrischen Phase befinden, in der sie sich nach seiner Ansicht noch nicht in die Position eines Beobachters versetzen können, der nicht die gleiche Position einnimmt wie sie. Nach Piagets Meinung fehlte ihnen dazu die Fähigkeit, zu dezentrieren.
[3] Hier gibt es ganz offensichtlich eine Beziehung zu der Unterscheidung eines Ich-Modus (I-Mode) und eines Wir-Modus (We-Mode) bei der Intentionalität wie sie von Tuomela (2007) diskutiert wird.
[4] Wir können nicht näher auf die interessanten Details und die Forschung zu den Spiegelneuronen eingehen, vgl. hierzu Rizzolatti et al. (2002), Rizzolatti. & Sinigaglia (2007) and Ramachandran (2008).
[5] Es ist also nicht einfach die gesellschaftlich hergestellte Gegenstandsbedeutung des Löffels, die das Füttern des Kindes vermittelt, sondern zuallererst und primär das Bewusstsein der Eltern, dass das Baby gefüttert werden muss (mit oder ohne Löffel). Ohne die diese Prozesse organisierende Sprache bzw. ihr zeichensprachliches Äquivalent kann das menschliche Baby nicht überleben. Es kann sich nicht wie das Affenbaby am Fell der Mutter den Weg zu Brust suchen und diese auch nicht ohne Hilfe finden.
[6] Unter bestimmten Bedingungen ist die Verwendung der Bezeichnung averbale Begriffsbildung möglich, was hier aus Platzgründen nicht erörtert werden soll. Auch dann ist jedoch das im Folgenden Vorgestellte relevant.
[7] Die bei Kleinkindern häufig beobachtbare Äußerung von „Mama“ auch gegenüber dem Vater ist ein schöner Beleg für die nicht-referentielle Verwendung des Wortes – wenn man unterstellt, dass das Kind beide Personen unterscheiden kann, was Kinder von 12 Monaten an mit Sicherheit können.
[8] Tomasello (2005) hat dieses Phänomen im Spracherwerbssprozess empirisch für die Aneignung verschiedener Gruppen von Verben im zweiten Lebensjahr gezeigt und mit dem Begriff „Verbinseln“ charakterisiert.
[9] Vgl. dazu unsere Vygotskij-Kritik vom ersten Symposion 2006 in Berlin, bei der wir hinterfragt haben, ob man die Entstehung der Bedeutung der Zeigegeste dadurch erklären kann, dass die Eltern eine erfolglose Greifbewegung des Kindes als Zeigebewegung interpretieren. Wir haben dabei nicht die Rolle der Interpretation der Eltern beim Spracherwerb kritisiert, sondern das Modell, in dem eine nicht-kommunikative Greifbewegung des Kindes als Quelle der Entwicklung von Wortbedeutungen ausgegeben wird.

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