In diesem Papier werden wir auf Vygotskijs
Vorstellung zur Entwicklung der höheren psychischen Funktionen eingehen und sie
zu neueren Ergebnissen in der Vergleichenden Psychologie, der Entwicklungspsychologie
und älteren Ideen in der Analytischen Philosophie in Beziehung setzen. Experimente
zum Thema “joint attention” und “sharing of intentions” mit Menschenaffen und
mit Babys zeigen mehr Ähnlichkeiten zwischen den Spezies, als bisher vermutet
wurde. Außerdem haben die Forschungsergebnisse der kognitiven
Entwicklungspsychologie gezeigt, dass es scheinbar basale Voraussetzungen für
physikalische, mathematische, räumliche und sprachliche Erkenntnisleistungen
gibt, die von Geburt an nachweisbar sind und somit zu unserem evolutionären
Erbe gehören. Wir wollen diese Befunde analysieren und prüfen, ob sie als
Bestätigung des Vygotskijschen Modells der Entwicklung gelten können.
Interessanterweise hat sich gezeigt, dass neben aktuellen
experimentalpsychologischen Befunden auch ältere Beiträge aus der Philosophy of
Mind ein Wörtchen mitzureden haben.
In diesem Beitrag werden
wir einige Argumentationslinien aufnehmen, mit deren Ausarbeitung wir in einem
Beitrag von 2006 begonnen hatten (vgl. Hildebrand-Nilshon & Seeger 2006,
vgl. unten Fußnote 8). Insbesondere werden wir dabei auf den Hintergrund unserer
Kritik an Vygotskijs berühmtem Beispiel der Entwicklung der hinweisenden
Gebärde (vgl. Vygotskij 1992) eingehen und uns dabei auf neuere Befunde aus der
Entwicklungspsychologie, der vergleichenden Psychologie und der analytischen
Sprachphilosophie beziehen.
Dabei handelt es
sich um Ergebnisse aus mindestens zwei wesentlichen Quellen, die eine
Aktualisierung und Ausarbeitung der Diskussion über die Entwicklung der Semiose
und der Sprache in der kulturhistorischen Psychologie und der
Entwicklungspsychologie verlangen.
Geteilte Intentionalität und die zwei Linien der Entwicklung
Ein herausragendes
Merkmal von Vygotskijs entwicklungspsychologischem Ansatz ist seine Darstellung
der “Entwicklung der höheren psychischen Funktionen.” Höhere psychische
Funktionen sind für ihn spezifisch menschliche Typen von psychischen
Funktionen, die zu vergleichen sind (1) mit den psychischen Funktionen unserer
tierischen Vorfahren in der Phylogenese, und (2) mit den psychischen Funktionen
von Kindern und Kleinkindern in der Ontogenese.
Zu Beginn seiner “Geschichte
der höheren psychischen Funktionen” (1992) stellt Vygotskij fest, dass es noch
eine anderen Dimension gibt, die sozusagen quer dazu verläuft:
Der Begriff “Entwicklung der höheren psychischen Funktionen” und unser Untersuchungsgegenstand erfassen zwei Gruppen von Erscheinungen, die auf den ersten Blick vollkommen unterschiedlich zu sein scheinen. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um zwei grundlegende Zweige der Entwicklung der höheren Verhaltensformen, die unaufhebbar verflochten sind: 1. Die allmähliche Beherrschung der äußeren Mittel, die die kulturelle Entwicklung und das Denken ermöglichen – der Sprache, der Schrift, des Rechnens und des Zeichnens – und 2. die Prozesse der Entwicklung spezieller höherer psychischer Funktionen, die weder abgegrenzt noch klar definiert sind und die in der traditionellen Psychologie “willkürliche Aufmerksamkeit”, “logisches Gedächtnis”, “Begriffsbildung” usw. Genannt werden. Sie bilden zusammen das, was wir vorläufig den Prozeß der Entwicklung der höheren Verhaltensformen beim Kinde nennen (Vygotskij 1992, 52).
In folgendem Zitat beschreibt
Vygotskij mit größtmöglicher Genauigkeit, welch großen Unterschied er zwischen
einer biogenetischen Version[1] menschlicher Entwicklung sieht, in der die
Ontogenese als Wiederholung der Phylogenese angesehen wird, und seiner eigenen
Idee einer Analogie zwischen Ontogenese und Phylogenese:
In der Entwicklung des Kindes sind beide Typen der psychischen Entwicklung vertreten (aber sie werden nicht wiederholt), die wir in isolierter Form in der Phylogenese vorfinden: die biologische und die historische oder die natürliche und die kulturelle Entwicklung des Verhaltens. In der Ontogenese haben beide Prozesse ihre Analogien (aber nicht Parallelen). Das ist eine grundlegende und zentrale Tatsache, der Ausgangspunkt unserer gesamten Forschung: die Unterscheidung zweier Linien der psychischen Entwicklung des Kindes, die ihrerseits den beiden Linien der phylogenetischen Verhaltensentwicklung entsprechen. Dieser Gedanke ist unseres Wissens noch nie ausgesprochen worden; dabei scheint er doch im Lichte der gegenwärtigen Untersuchungsergebnisse der genetischen Psychologie ganz offensichtlich und es ist vollkommen unverständlich, daß er bisher der Aufmerksamkeit der Wissenschaftler entgangen ist. Damit wollen wir keineswegs sagen, daß die Ontogenese in gewisser Form oder zu einem gewissen Grade die Phylogenese wiederholt oder reproduziert oder deren Parallele bildet. Wir meinen etwas ganz anderes, das man nur aus Denkfaulheit als ein Plädoyer für die Rückkehr zum biogenetischen Grundgesetz ansehen kann. ... Hier genügt der Hinweis darauf, daß wir die beiden Linien in der kindlichen Entwicklung und die beiden Linien in der Phylogenese nicht als strukturell oder inhaltlich analog darstellen wollen. Wir beschränken die Analogie auf ein Moment: auf das Vorhandensein von zwei Entwicklungslinien sowohl in der Phylo- als auch in der Ontogenese (Vygotskij 1992, 61-62)
Auch nachdem wir
Vygotskijs sorgfältige Darstellung der Begriffe vorliegen haben, müssen wir
noch genauer wissen, wie im Einzelnen die zweite Linie der Entwicklung, die kulturelle
und die historische, entsteht. Wir wissen, dass beide Linien weiter
nebeneinander bestehen bleiben oder dass sie in einer Linie verschmelzen, je
nachdem welchen Teil von Vygotskijs Werk wir zu Grunde legen.
In einem ersten Versuch
der Differenzierung lässt sich vielleicht sagen, dass die erste Linie der
Entwicklung die typische Entwicklung der biologischen Grundausstattung
darstellt, während die zweite Linie als Entwicklung durch und in Kultur
gekennzeichnet werden kann. Wir müssen aber sehr genau untersuchen, ob so etwas
wie ein Demarkationskriterium zwischen den beiden Linien identifiziert werden
kann. Oft wird angenommen, dass “Lernen” solch ein Kriterium wäre, das
biologisch bestimmte von kulturell bestimmten Funktionen unterscheiden ließe. Lernen
benötigt aber auf der einen Seite sehr spezifische biologisch bestimmte Grundvoraussetzungen,
und kulturelle Entwicklung kann auf der anderen Seite nur erfolgen, wenn sie
innerhalb des Individuums eine biologische Grundlage dafür findet, kulturelle
Strukturen über Generationen hin zu erhalten. Gibt es vielleicht andere
Kandidaten, die es uns erlauben, eine Trennung zwischen den beiden Linien
vorzunehmen?
Intentionalität and geteilte Intentionalität: Ein Definitionsversuch
Intentionalität ist
neuerdings zu einem Forschungsgebiet geworden, das auf beträchtliches Interesse
stößt. Die Ideen und Probleme, die sich um die Entwicklung der Intentionalität
herum gruppieren, geben den Versuchen verstärkt Nahrung, Vygotskijs Idee von
den zwei Linien der Entwicklung in größerem Detail zu formulieren - zumindest
was die “höheren” psychischen Funktionen betrifft. In Vygotskijs Verständnis der höheren
psychischen Funktionen war es entscheidend, dass nur Menschen sie haben
konnten. Im Lichte der kultur-historischen Sichtweise auf Intentionalität
(Tomasello 1999) und der geteilten Intentionalität (im Original: „shared
intentionality“, vgl. Tomasello & Carpenter 2007) wird klar, dass es den
Menschenaffen nicht gelingt, geteilte Intentionalität zu einem Teil ihrer
Alltagspraxis zu machen – auch wenn es überraschend ist, wie viele Eigenschaften
menschlichen Verstehens und des Verstehens von Intentionalität sie besitzen, von
denen man zuvor glaubte, dass nur Menschen sie besäßen. Einige Stichworte
sollen erläutern, wovon wir hier sprechen:
- Schimpansen können sehr genau verstehen, was ein anderer Schimpanse auch aus seiner anderen Perspektive sehen kann.[2] Wenn zum Beispiel Essen auf eine Stelle zwischen zwei Schimpansen gelegt wird, wird es immer vom ranghöheren Tier genommen. Das rangniedere Tier würde niemals das Essen in Gegenwart des Ranghöheren nehmen. Wenn nun eine Blende so aufgestellt wird, dass das rangniedere Tier das Essen sehen kann und das ranghöhere nicht, nimmt das rangniedere das Essen – wohl wissend, dass das ranghöhere es nicht sehen kann (siehe Hare et al. 2001). Dies zeigt, wie weit Schimpansen zu Handlungen in der Lage sind, die man evtl. auch als bewusste Handlungen bezeichnen könnte ;
- Im Unterschied dazu sind Schimpansen zu relativ einfach erscheinenden Gesten nicht in der Lage – wie etwa dazu, auf ein bestimmtes Objekt zu zeigen. Das referentielle Zeigen steht den Menschenaffen nicht zur Verfügung – entsprechend fragt Tomasello: “Why don’t apes point” (Tomasello 2006);
- Schimpansen haben große Schwierigkeiten, kooperativ zusammen zu arbeiten. Melis et al. (2006) konnten zeigen, dass Schimpansen ziemlich erfolgreich bei der Lösung von Aufgaben sind, die kooperative und koordinative Fähigkeiten verlanten, wenn sie tolerant sind und keine Problem mit dem Rang des Kooperationspartners haben. Sollte es an Toleranz fehlen oder Rangprobleme geben, ist Kooperation praktisch unmöglich.
Intentionalität kann als
individuelles oder als soziales Konstrukt betrachtet werden, je nachdem ob der
Kontext der Tätigkeit eher ein Alleinssein oder eine Gruppensituation mit sich
bringt. Die Art von geteilter
Intentionalität, mit der wir uns hier beschäftigen, geht über das bloße
Teilen von Zielen hinaus, das in einer Gruppensituation bestimmend sein könnte.
Die geteilte Intentionalität, die Gegenstand unserer Ausführungen ist,
definieren wir mit Tomasello als “zwei Personen, die das Gleiche zur gleichen
Zeit erfahren und dabei beide wissen,
dass dies der Fall ist” (Tomasello & Carpenter 2007a, p. 121; unsere
Übersetzung). In einem neueren Beitrag über das Zeigen von Kleinkindern kommen Tomasello et al. (2007b) zurück zu unserem
Ausgangspunkt: der kindlichen Zeigegeste. Sie unterscheiden hier zwischen einer
starken und einer schwachen Interpretation von protoverbalen Formen der
Kommunikation (wie etwa Zeigen). Die schwache Version sieht das Kind und den
Erwachsenen bloß instrumentell: das Kind will, dass der Erwachsenen irgend etwas
Bestimmtes tut. Die starke Version sieht, dass das Kind versucht, die
intentionalen und mentalen Zustände des Erwachsenen zu beeinflussen, indem es
dabei auf der Basis des Verständnisses handelt, dass der Erwachsene ein soziales
Wesen. Die starke Version fordert, dass der geteilte Kontext und seine Fähigkeit
Relevantes von Nicht-Relevantem zu unterscheiden, berücksichtigt werden muss:
ein gemeinsamer Grund, eine gemeinsame Basis ist dafür absolut notwendig. Dies
ist ebenfalls wichtig für die Bestimmung dessen, was man “zusammen weiß.”
Geteilte
Intentionalität entspringt also der grundlegenden Annahme, dass das andere
menschliche Wesen “wie ich” ist (Meltzoff 2007), dass das andere menschliche
Wesen ein Artgenosse ist, mit dem ich etwas Gemeinsames teile. [3]
Es ist vollkommen klar,
dass die menschlichen Wesen nicht mit einer voll funktionsfähigen Fähigkeit zur
geteilten Intentionalität auf die Welt kommen. Geteilte Intentionalität
entwickelt sich in den frühen Jahren, wobei es immer wieder überraschend ist,
wie früh Kinder bereits über gewissen Funktionen verfügen – Funktionen wie Vorläufer
von Empathie oder Hilfsbereitschaft, die man als Grundvoraussetzungen für die
Entwicklung von geteilter Intentionalität ansehen kann.
Wir werden im folgenden
das Problem der zwei Linien der Entwicklung umformulieren und in zwei
unterschiedlichen Teilen bearbeiten: in einem Teil, in dem es um kognitive
Kernfunktionen und ihre Beziehung zur geteilten Intentionalität geht, und einen
Teil, in dem es um Sprache und die zwei Linien der Entwicklung geht.
Kernfunktionen und ihre Beziehung zur geteilten Intentionalität
Abbildung 1: Basale
Funktionen und geteilte Intentionalität
Abbildung 2: Kernfunktionen,
geteilte Intentionalität und soziale Praxis
Unsere zentrale These lautet
deshalb, dass zuallererst diejenigen Prozesse, die Ihren Ursprung in der
geteilten Intentionalität haben bzw. für die die geteilte Intentionalität ein
Indikator ist, eine Weiterentwicklung der aufgezeigten basalen Systeme
ermöglichen. In Abbildung 2 haben wir deshalb eine Vermittlungsebene eingefügt:
die kooperative Lebenspraxis als Ort sozialer
Semiosen. Diese dritte Ebene bildet das Bindeglied zwischen der individuellen
Entwicklung und dem sozialen Kontext, in den sie eingebettet ist, und sie
konstituiert unseres Erachtens das, was Vygotskij als zweite, kulturelle Linie
der Entwicklung konzipiert hat. Im folgenden Abschnitt soll diese These noch
einmal aus einem Blickwinkel beleuchtet werden, in dem der Begriff der
kulturellen Lebenspraxis ebenfalls einen zentralen Stellenwert einnimmt und in
dem das auch von Vygotskij als wesentlich angesehene semiotische Medium Sprache
die zentrale Rolle spielt.
Kooperation, Sprache und Entwicklung
Das menschliche „Sharing of
intentions“ ist mehr als bloßes Zusammenwirken auf ein gemeinsames Ziel hin,
denn es findet statt vor dem Hintergrund einer Lebenspraxis, die sprachlich
strukturiert ist. Wenn wir in Abbildung 2 die neue Ebene der Lebenspraxis also
mit Inhalt füllen wollen, müssen wir sie gewissermaßen in eine „sprachliche
Hülle“ einbetten, die die Akteure wie die Atemluft umgibt. Denn die kulturelle
Lebenspraxis wird durch das bewusste Handeln der Erwachsenen konstituiert. Dies
gilt auch für das Handeln, das sich auf das Gedeihen des Säuglings bezieht.
Insofern kann man sagen, dass das, was Wittgenstein mit „Sprachspiel als
Lebenspraxis“ bezeichnet hat, dem entspricht, was Vygotskij als höhere
psychische Funktionen bezeichnete: bewusste Aufmerksamkeit, bewusstes Wissen
(z.B. über das für den Säugling Nützliche), bewusster Einsatz der zur Pflege und Ernährung notwendigen Mittel[5].
Insofern ist die Interaktionen zwischen Säugling oder Kleinkind und Erwachsenen
in ein bewusstes, sprachlich durchdrungenes Geschehen eingebettet, egal ob wir
es Erziehungsphilosophie oder „intuitiv parenting“ nennen, denn trotz aller
intuitiver Reaktionsformen, wie z.B. Tonhöhe oder Nähe und Distanzregelung,
bestimmen die bewussten Dimensionen des Handelns die Interaktion – seien sie
religiös, wissenschaftlich oder familiär begründet. Dies dürfte von niemand bestritten werden.
Wenn es sich aber um
wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten handelt, was bringt der Rückgriff
auf Wittgenstein und die Philosophy of Mind? Wir meinen, dass dieser
Blickwinkel ein anderes, vielleicht ein etwas klareres Licht auf die Entwicklung der Bedeutungen wirft, wie
sie Kinder gegen Ende des ersten und im Verlauf des zweiten Lebensjahres
lernen. Dies soll im Folgenden kurz erläutert werden, weil damit auch die
Vygotskijschen Thesen von der Entwicklung der höheren psychischen Funktionen an
Überzeugungskraft gewinnen.
Eine wichtige Konsequenz des
Blicks von Wittgenstein und seinen Nachfolgern auf das Thema Bedeutung (im
Überblick: Wellmer, 2006) lässt sich in einer Analyse von Formulierungen
zeigen, wie man sie in der kognitionsorientierten Entwicklungspsychologie
findet. Wir greifen dazu exemplarisch auf die schon referierte Position von
Elizabeth Spelke zurück, d.h. auf die von ihr postulierten vier bzw. fünf
Kernfunktionen (Gegenstände, Handlungen, Zahlen, Umweltgeometrie - und nicht
zuletzt: Mitmenschen). Wir zitieren hier als Beispiel die Beschreibung des
Systems der Gegenstandsrepräsentationen:
„It centers on the spatio-temporal principles of cohesion (objects move as connected and bounded wholes), continuitiy (objects move on connected, unabstructed paths), and contact (objects do not interact at a distance)“ (Spelke & Kinzler, 2007, 89).
Über diese Fähigkeiten verfügen
sowohl gerade geschlüpfte Kücken wie menschliche Babys. Beide können sich
bewegende Objekte ohne Vorerfahrungen identifizieren. Allerdings scheint aber
die nach der Geburt einsetzende Erfahrung mit Gegenständen nicht automatisch
und sofort zu einer differenzierten Objektklassifikationskompetenz zu führen.
Die zahlreichen Untersuchungen, insbesondere von T.G.R. Bower und Mitarbeitern
(vgl. z.B. Wishart & Bower, 1984, 1985), zur Frage nach der Entwicklung von
Objektidentität und Objektpermanenz (für Bower folgt Erstere der Letzteren, für
Piaget ist Erstere die Voraussetzung für Letztere) zeigen frühe objektbezogene
Kompetenzen der Babys: Gegenstände werden im Hinblick auf Textur, Form, Bewegungsdynamik
unterschieden; auch verdeckte Gegenstände werden gesucht, wenn sie nur
teilweise verdeckt sind; von verschwindenden Gegenständen erwarten Kinder, dass
sie wieder auftauchen. Piagets berühmter A/nichtB-Fehler bleibt jedoch trotz
aller Kompetenzen bis zum Ende des ersten Jahres bestehen, bei dem die
beobachteten Kinder die Gegenstände, die sichtbar bei A versteckt werden, um
dann ebenso sichtbar von A nach B verlagert zu werden, bei A und nicht zuerst
bei B suchten, obwohl sie deren Verschwinden bei B genau gesehen hatten.
Entscheidend scheint hier die
Verwendung des Objektbegriffs zu sein. In den Untersuchungen von Spelke, Bower
und Kollegen hört sich das so an, als könne das Kind Objekte erkennen. De facto
erkennt das Baby aber Differenzen in der Objektwelt zwischen unterschiedlichen
Versuchsanordnungen, in denen Objekte bzw. Objektmerkmale eine
diskriminierende Rolle spielen, und es bringt diese Erkenntnis durch
entsprechende Reaktionen zum Ausdruck, entweder durch Präferenz von zwei
konkurrierenden Reizmustern oder durch Habituation und Dishabituation. Die
Qualifikation des Wahrgenommenen mit dem Begriff „Objekt“ ist unserem
erwachsenen Bewusstsein und unserem sprachlich strukturierten Denken
geschuldet.
Zwar ist allen Beteiligten
klar, dass die Kinder weniger differenziert wahrnehmen können als Erwachsene.
Die Unterschiede zwischen kindlichen Kompetenz- und Wissenssystemen und denen
der Erwachsenen werden allerdings nicht als qualitative Differenz, sondern nur
als gradueller Unterschied gesehen, der zwar eines Komplexitätszuwachses
bedarf, den man aber als bloße Anreicherung einer von Anfang an bestehenden
Sicht auf eine dreidimensionale, raum-zeitlich stabile, vom Kind unabhängige
Objektwelt interpretieren kann.
Könnte man dazu sagen, dass dies
den frühen Vorstellungen Vygotskijs entspräche? Die natürliche
Entwicklungslinie würde den Säugling mit objekt- und personenbezogenen
Kompetenzen ausstatten, die dann über ihre Nutzung sukzessiv angereichert und
dadurch entwickelt würden, bis sie schließlich das erwachsene Niveau erreicht
hätten. In den angeborenen Wissenssysteme eines modular aufgebauten neuronalen
Systems fände man damit wesentliche Erklärungsmuster für die beobachtbare
psychische Entwicklung, was natürlich die Rolle der gegenständlichen und
sozialen Umwelt für den erfolgreichen Verlauf dieses Prozesses keineswegs
ausblenden würde. Die Struktur dessen, was sich da entwickelt fände sich jedoch
in diesen Kernen, so wie im Apfelkern letztlich die Struktur des Apfelbaums
ruht, denn auch der entwickelt sich ja nicht überall und nicht ohne Zutun der
Umwelt und den menschlichen Züchtungsanstrengungen.
Mit der sozialen Interaktion
und der Sprache verhielte es sich dann ebenso: beginnend mit den frühen
Imitationsprozessen, der Präferenz menschlicher Gesichter und Stimmen sowie dem
Erkennen der menschlichen Mimik und der Produktion von Lauten mit
unterschiedlichem Entwicklungsniveau und unterschiedlicher Adaptation an die
Umgebungssprache (hier insbesondere der Chomskyschen Universalien) fänden wir
die Bausteine für die Entwicklung. Die Natur würde damit gewissermaßen den
Baustoff und den Bauplan für diese Entwicklung zur Verfügung stellen und die
kulturelle Linie würde dann die dazu notwendigen Nährstoffe und Rahmenbedingungen
schaffen, damit sich diese Anreicherung erfolgreich vollziehen kann.
Wäre das ein Modell für
Vygotskijs zwei Linien der Entwicklung? Wir glauben, dass Vygotskij dem so
nicht zustimmen würde.
Bevor wir jedoch auf Vygotskij
zurückkommen, wollen wir versuchen, die terminologischen Probleme um den
Objektbegriff unter Zuhilfenahme
aktueller Debatten in der analytischen Philosophie etwas zu erhellen. Wir
wollen zeigen, dass das Modell der kognitiven Entwicklungspsychologie mit der
graduellen Entwicklung vom einfachen zum komplexen Objektbegriff nicht zu Ende
gedacht ist. Kern der Debatte ist der Bedeutungsbegriff und die Frage, wie man
Bedeutungen definieren kann und wie sie sich entwickeln.
Die Frage nach der Entwicklung
von Bedeutungen ist eng mit der Verwendung des Objektbegriffs gekoppelt: Wann
ist es gerechtfertigt, eine Wahrnehmung als Objektwahrnehmung zu bezeichnen?
Wann ist das, was hier als basales Wissenssystem beschrieben wird,
objektbezogenes Wissen (die schwache Variante) und wann Wissen über Objekte
(die starkte Variante)? Und wie steht der hier verwendete Objektbegriff mit dem
von Piaget in Beziehung, der Objekte als raum-zeitliche, in Form, Farbe, Lage
und Beschaffenheit abgrenzbare Artefakte (oder Lebewesen) bezeichnet hatte, die
zu meinen Handlungen in einer eigenständigen Beziehung stehen?
Die in der Literatur
verwendeten begrifflichen „Minaturisierungsversuche“ wie „Protowissen“ oder
„Vorläufer des Objektbegriffs“ erwecken den Eindruck, hier wären gewissermaßen
schon alle Zutaten zur Entwicklung des Endprodukts vorhanden. Die Philosophy of
Mind und die Debatte um die Möglichkeit einer Privatsprache zeigen jedoch, dass
der Objektbegriff und der Name für ein Objekt unentwirrbar miteinander
verkoppelt sind (vgl. dazu Kripke, 1987, streng genommen kann man aus dieser
Perspektive eigentlich nicht von der Bildung averbaler Begriffe sprechen[6]).
Hören wir uns Donald Davidson
an, der sich mit der Frage beschäftigt, wie Dinge oder Objekte zu einem Namen
kommen oder sich unter einem Begriff subsumieren lassen (Davidson, Donald
(2006). Bedingungen für Gedanken. In: ders.,
Probleme der Rationalität. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 233-256.
Original: What Thought Requires. In J.
Branquinho (Ed.) The Foundations of Cognitive Science, Oxford University Press,
2001).
„Dass man einen Begriff hat, heißt, dass man Dinge darunter subsumieren kann. Das ist nicht bloß davon abhängig, dass man von Geburt aus dazu disponiert ist oder gelernt hat, in bestimmter Weise auf Sachen zu reagieren, die unter einen Begriff fallen, sondern es heißt: urteilen oder glauben, dass bestimmte Sachen unter diesen Begriff fallen. Wenn man das nicht als Bedingung für das Haben eines Begriffs auffasst, wird man die schlichte Neigung, Beeren zu essen, Wärme zu suchen oder Kälte zu meiden, als Begriffe der Beere, der Wärme oder der Kälte behandeln müssen. Ich nehme an, dass wir Regenwürmer und Sonnenblumen nicht als Wesen ansehen wollen, die Begriffe haben. Das wäre ein terminologischer Fehler, denn damit würde man einen grundlegenden Unterschied aus dem Auge verlieren, nämlich den Unterschied zwischen der gedankenlosen Disposition, auf die verschiedenen Elemente einer Klasse von Reizen verschieden zu reagieren, und der Disposition, auf diese Sachen als Elemente dieser Klasse zu reagieren.“(237)
Das, was Davidson hier für
Begriffe formuliert, kann man nach unserer Einschätzung durchaus auch auf die
Verwendung des Wortes „Objekt“ für die Wahrnehmung des Kindes heranziehen, denn
die Spelkeschen Experimente sagen aus, das Kind könne das Objekt X oder Y
wahrnehmen. Sie suggerieren damit, das Kind verfüge über einen Objektbegriff
wie Erwachsene, nur sei er nicht so entwickelt und reichhaltig. Die kognitiven
Entwicklungspsychologen übersehen den von Davidson herausgestellten
Unterschied zwischen der Erfassung eines Objekts (bzw. der Merkmale eines Objekts) und der
Erfassung eines Objektes als Ganzes und damit als Element einer Klasse.
Der Unterschied besteht
zwischen der Fähigkeit, „ein Objekt
zu erkennen“, und der Fähigkeit, „ein
Objekt als eigenständiges Objekt zu erkennen“.
Dieser kleine aber wesentliche Unterschied ist schwer zu begreifen. Im ersten
Fall reagiert das Kind auf bestimmte Muster, auf Ähnlichkeiten zwischen Mustern
und auf bestimmte Merkmale von Objekten,
wie sie systematisch in Verbindung mit dem Hantieren mit Objekten auftauchen,
insbesondere, wenn man sie experimentell als solche isoliert. Die Experimentatoren,
die gewissermaßen den objektiven Beobachterstandpunkt beziehen, schlussfolgern
aus diesen Reaktionen, dass das Kind ein Objekt wahrnehmen könne, weil es auf
bestimmte Merkmale des Objekts reagiert, z.B. seine Bewegungsdynamik. Das
hinter einem Schirm verschwindende „Objekt Elefant“ taucht dann unter Umständen
in der gleichen Geschwindigkeit wieder als „Objekt Ente“ hinter dem Schirm auf,
und das Kind kann das Reizmuster, das sich in konstanter Bewegung befindet,
als Bewegungsmuster erkennen und dessen Bahn antizipieren. Form, Farbe,
Objektbeschaffenheit oder Objektklasse sind für das Kind irrelevant. Unserer
Meinung nach werden hier keine Objekte, sondern unterschiedliche Merkmale von
Arrangements mit Objekten erfasst.
Mit Hilfe von
Habituationsexperimenten kann man z.B. zeigen, dass 10 Monate alte Babys auf
Ähnlichkeiten bei Zeichnungen von Phantasietieren, die in Gruppen mit ähnlichen
Beinen, Hälsen, Schwänzen usw. gruppiert sind, systematisch Bekanntes von Neuem
unterscheiden können (gemessen an der Fixationsdauer!). Sie erkennen also
Bekanntes und Neues bei unterschiedlichen Präsentationen und können damit schon
bestimmte visuelle Klassifizierungsleistungen vollbringen (Younger &
Cohen, 1983). Die Autoren sprechen dabei von korrelativer Begriffsbildung,
andere sprechen von Kategorisierungsprozessen, hier ein Zitat aus einem
aktuellen Lehrbuch:
„Findings reveal that 6- to 12-month-olds structure objects into an impressive array of meaningful categories – food items, furniture, birds, animals, vehicles, kitchen utensils,plants, spatial location („above“, „below“, „on“, and „in“), and more (....). Besides organizing the physical world, infants of this age also categorize their emotional and social worlds. Their looking responses reveal that they sort people and their voices by gender and age (....), have begun to distinguish emotional expressions, and can separate peoble’s natural movements from other motions (....). The baby’s earliest categories are perceptual – based on similar overall appearance of prominent object part, such as legs for animals and wheels for vehicles. But by the second half of the first year, more categories ar conceptual – based on common function and behavior.“ (Laura E. Berk, 2006, 228/229)
Die Antwort der Kinder durch
Präferenzen in der Wahrnehmung wird erst nach dem 12. Monat durch aktive
Klassifikationsformen abgelöst. Jetzt können die Kinder Klassifikationsaufgaben
schon besser verstehen und berühren zusammengehörende Objekte. Mit 18 Monate
können sie dann ähnliche Objekte auch aktiv zusammen in zwei Klassen einordnen. Piaget würde
sich freuen, denn genau das hatte er ja herausgefunden: wenn die symbolische
Ebene (bei ihm war es die nichtsprachliche Vorstellung) etabliert ist, dann ist
die Objektpermanenz hergestellt, d.h. die Kinder können mit den Vorstellungen
auf der geistigen Ebene operieren. Vygotskij hielt dazu die sprachlichen Mittel
für unerlässlich. Wir schließen uns dieser Position in Verbindung mit der
Philosophy of Mind an.
Wir sind nicht der Meinung,
Kinder seien nicht zu den kognitiven Leistungen in der Lage, die als averbale
Begriffsbildung bezeichnet werden. Wir sind nur mit Wittgenstein und Davidson
der Meinung, dass das, was das Kind zeigt nichts mit Begriffsbildung zu tun hat
oder nicht so bezeichnet werden sollte, weil an Begriffe andere Kriterien
anzulegen sind als an nonverbale Klassifikationsprozesse, die sich auf der
Verhaltensebene zeigen, weil das Wahrnehmungsangebot so gestaltet war, dass
die Kinder ihre sensumotorischen Fähigkeiten zur Erkennung von Ähnlichkeiten
und Unterschieden hier systematisch zeigen konnten.
Für Wittgenstein ist die
Fähigkeit der Rekonstruktion der Objekte als Objekte im Raum auf der
Vorstellungsebene ohne sprachliche Repräsentation nicht denkbar. Erst mit
Hilfe bewusster Prozesse können wir uns Objekte als eigenständige Objekte
vorstellen, und dazu ist Sprache die conditio sine qua non. Wittgenstein und
seine Nachfolger in der Analytischen Philosophie arbeiten diesen Unterschied
sehr präzise heraus, indem sie begründen, warum ein Begriff nicht durch eine
assoziative Koppelung mit einem Vorstellungsbild zustande kommen kann: Es wird
nicht erst eine Zuordnung Wort-Ding vorgenommen und dann eine Regel festgelegt,
dass dieses Wort als Substantiv zu gebrauchen wäre, wie manche
entwicklungspsychologischen Modelle postulieren. Vielmehr setzt diese Zuordnung
die symbolische Durchdringung der ganzen Handlungsszene schon voraus, in der
das Wort geäußert wird. Ohne das Verstehen von ganzen Sätzen, die in einer
Kommunikationssituation geäußert werden, gibt es keine Bedeutung von Wörtern
und demnach auch keine Zuordnung von Objekt und Begriff. Dies gilt auch für die
Phase der sogenannten Einwortsätze des Kleinkindes, worauf wir unten ausführlicher
zu sprechen kommen. Wittgenstein bringt den Gedanken der Einbettung der
Wortbedeutung in einen komplexeren Kontext in folgenden Passagen des Blauen
Buches zum Ausdruck:
„Der Fehler, zu dem wir neigen, könnte folgendermaßen ausgedrückt werden: Wir suchen nach dem Gebrauch eines Zeichens, aber wir suchen nach ihm , als ob er ein Gegenstand wäre, der mit dem Zeichen in Koexistenz ist. (Einer der Gründe für diesen Fehler ist wiederum, dass wir nach einem „Ding“ suchen, „das dem Substantiv entspricht“). Das Zeichen (der Satz) erhält seine Bedeutung von dem System der Zeichen, von der Sprache, zu dem es gehört. Kurz: Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen.“ (Das blaue Buch, 1984, 19 ff, zitiert nach Wellmer, 2006, S.54);
In den Philosophischen
Untersuchungen heißt es:
„Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes Bedeutung - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dies Wort so erklären: die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ (Wittgenstein, PU, § 43)
Begriffe entstehen im sozialen
Verkehr als Verallgemeinerungen von Kooperations- und Kommunikationserfahrungen
und sie sind durch ihre Beziehungen zu anderen Begriffen definiert. Ein Begriff
setzt deshalb immer ein komplexes sprachliches Gefüge voraus, ohne das er nicht
existieren kann, auch wenn es zunächst so aussieht, als könne mit dem Zeigen
auf ein Objekt und dessen Benennung mit einem Namen die Entstehung von Begriffen
erklärt und verstanden werden. Doch dieser einfache deiktische Akt oder der
Satz „das ist ein Baum“, wird nicht verstanden, wenn der Adressat die Funktion
der Benennung von Gegenständen oder die Zeigegeste oder die Wörter „das“ und
„ist“ und „ein“ nicht kennt. Zudem sind die meisten Begriffe unserer Sprache,
wie z.B. die eben zitierten, durch hinweisende Gesten gar nicht zu vermitteln.
Auch das gestische Zeigen auf einen Baum, um diesem einen Namen zu geben,
erfüllt nur dann seinen Zweck, wenn der Adressat der Geste das Zeigen als
kommunikative Handlung schon beherrscht. Und auch dann ist es immer noch
relativ schwer zu entscheiden, ob der Zeigende auf Baum, Borke, Krone, Vogel
oder auf etwas hinter dem Baum Verborgenes zeigt.
Selbst wenn man sich ausdenkt,
es gäbe einen kognitiven Prozess, in dem sich ein Kind einen averbalen Begriff
von einem Objekt oder einem Lebewesen, z.B. der Mutter, gebildet und ihn dann
mit einer Lautsequenz verbunden hat, muss es erst eine kommunikative
Verwendungssituation erfahren haben, in der das verbale Gebilde „Mama“, das auf
das averbal erfasste „Objekt“ bzw. Lebewesen passt, seine kommunikative
Funktion erhält: Mama herbeirufen, auf Mama verweisen, von Mama erzählen etc..
Das Verstehen von „Mama“ ist deshalb immer ein Verstehen der gesamten Kommunikationssituation,
in der dieses Wort geäußert wurde und identifiziert werden konnte. Und die
aktive Äußerung von „Mama“ hat ebenfalls die komplexe Bedeutung des gesamten
Kommunikationsaktes: Mama begrüßen, auf Mama zeigen, Mama herbeirufen etc.
Insofern sind diese ersten
„Mama-Äußerungen“ keine Begriffe für das „Objekt Mutter“ im Sinne
referentieller Akte, obwohl natürlich in der Äußerung von „Mama“ referentielle
Komponenten enthalten sind[7]. In
der sehr viel umfassenderen Gesamtbedeutung der Äußerung „Mama“ bilden diese
referentiellen Komponenten gewissermaßen „den Leitstrahl“, der die spätere
Entwicklung der Bedeutung des einzelnen Wortes „Mama“ aus der komplexen
Bedeutung der Äußerungen in den Kommunikationssituationen heraus lenkt und
dabei „Plätze“ für andere differenzierte Wortbedeutungen öffnet[8]. Für
die Leitstrahl-Metapher könnte man auch Vygotskijs Begriff von der „Zone der
nächstfolgenden Entwicklung“ verwenden, denn es sind hier die Erwachsenen,
deren Interpretationen (im Sinne von Blooms „rich interpretation“) die
Bedeutung der Äußerung des Kindes externalisieren und dem Kind so die Bedeutung
seiner Äußerung in der ausführlichen Fassung präsentieren – sozusagen den
„director’s cut “.[9]
Für das die Sprache lernende
Kind ist das die entscheidende Größe, weil die Interpretation der von ihm
geäußerten Wörter deren Bedeutung entwickelt. Der Unterschied zwischen den
Bedeutungen der Sprache in den kindlichen Äußerungen und den Bedeutungen dieser
oder ähnlich klingender Äußerungen in der Sprache der Erwachsenen führt
einerseits zur Möglichkeit der Identifikation sprachlicher Elemente mit
bestimmten Handlungstypen und Situationsmerkmalen durch das Kind. Andererseits
gibt der Einwortsatz den Erwachsenen Hinweise, auf welche gemeinsamen Handlungen
das Kind hinweisen will. Denn die Erwachsenen interpretieren die Einwortsätze
im Allgemeinen so, wie sie vom Kind intendiert sind: als Sätze mit komplexen
Bedeutungen: Die Äußerung „Mama“ in einer bestimmten Situation wird von dieser
verstanden als „Schau mal Mama, was für ein großer Vogel!“ Die
Bedeutungsunterschiede der Äußerung „Mama“ zwischen kindlicher Holophrase und
dem Gebrauch desselben Wortes in der Erwachsenensprache konstituieren insofern
die Dynamik des Spracherwerbsprozesses. Dabei sind beide Prozesse von
entscheidender Relevanz für das Gelingen:
- die aktive kindliche Pars-pro-toto-Verwendung eines Wortes mit der Bedeutung einer komplexen sprachlichen Äußerung,
- die elterliche Interpretation dieser Äußerung, die zum Gelingen der Kommunikationsabsicht des Kindes führt und dadurch der Äußerung des Kindes im Gebrauch auch die vom Kind intendierte Bedeutung gibt, d.h. es gibt weder eine Korrektur noch ein Nichtverstehen der kindlichen Konstruktion.
Das gleiche Wort („Mama“) existiert damit eine Zeit lang gewissermaßen in der Kommunikationspraxis mit zwei Bedeutungen
-
auf Seiten des Kindes als komplexer Satz mit verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten, denn je nach Situation bedeutet „Mama“ etwas anderes, - auf Seiten der Eltern als einzelner Bestandteil einer komplexen Äußerung, der über die gemeinsame kooperative Handlungserfahrung mit den Kommunikationsintentionen des Kindes gekoppelt wird
Das gemeinsame, erfolgreiche „Leben dieser zwei Bedeutungen“ in der sozialen Praxis, oder wie Vygotskij sagen würde „im sozialen Verkehr zwischen den Individuen“, ist die Basis für die Bedeutungsentwicklung und Bedeutungskonstitution auf Seiten des Kindes – wobei die anfängliche Mehrdeutigkeit der Wörter ja keineswegs völlig verschwindet, sondern das Besondere der Sprache mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Bedeutungen und im wechselseitigen Verstehen ausmacht – und die Basis für Metaphorik und andere kreative Anwendungen darstellt.
Wir können deshalb festhalten,
dass, beginnend bei der Zeigegeste, Sprache und Bedeutung nur im sozialen
Gebrauch, d.h. im Kommunikationsprozess, psychologisch einen Sinn machen.
Dieser Sinn ergibt sich für das Kind nicht aus der Zuordnung irgendwelcher
objekt- oder personenbezogenen Merkmalskomplexe zu Zeichen, sondern aus der
langen Erfahrung des Handelns in gemeinsamen Handlungsprozessen mit kompetenten
Sprechern und Akteuren, in denen man seine Ziele verwirklichen konnte und sich
dabei auch etwas zu zeigen und etwas zu sagen hatte. Basis dieser gemeinsamen
Erfahrung sind die Ausstattung des Säuglings mit der Fähigkeit zum „sharing of
intentions, sharing of actions, sharing of emotions“. Auf dieser Grundlage
machen Handlungssituation und Kommunikationsabsicht als Ganzes und damit alles,
was zum relevanten Kontext gehört (Ort, Zeit, Partner, Absicht, Vorgeschichte,
Zielsetzung des Diskurses etc.) die Bedeutung einer Äußerung aus, egal ob dabei
nur eine einzelne Zeigegeste oder ein einzelnes Wort sichtbar oder hörbar sind.
Insofern folgt die Produktion eines „Einwortsatzes“ durch das Kleinkind den
gleichen Prinzipien wie die alltägliche Diskursproduktion eines Erwachsenen
oder eine völlig neue, metaphorische Verwendung eines Begriffs in Poesie oder
Wissenschaft.
Damit sind Spelke und die oben
genannten Kompetenzen des Kindes nicht falsifiziert. Im Gegenteil: Wir schlagen
eine begriffliche Differenzierung im Lichte unserer zwei Entwicklungslinien
vor:
Der menschliche Säugling
verfügt über ein phylogenetisches Erbe, das Entwicklungsprozesse in zwei
Lebensbereichen ermöglicht:
- Gegenüber der Objektwelt ist er in der Lage - entgegen den Piagetschen Thesen – auch nach Dingen zu suchen, die ihm aus der Hand geglitten sind oder die er aus anderen Gründen nicht mehr sieht, weil es so etwas wie einen „crossmodal transfer“ gibt. Er ermöglicht dem Säugling von einer Sinnesmodalität auf die andere zu „schließen“ bzw. die Sinnesmodalitäten wirken zusammen. Zu diesem Bereich gehören auch die von Spelke und anderen herausgearbeiteten „core systems“, nur würden wir sie nicht „knowledge systems“ nennen, weil wir den Wissensbegriff für explizites, bewusstseinsfähiges Wissen reservieren würden.
- Für die Interaktion in der sozialen Umwelt ist der Säugling mit einer Reihe von erstaunlichen Kompetenzen ausgestattet, die ihn nicht nur in die Lage versetzen, auf soziale Signale und Zuwendung angemessen zu reagieren. Er verfügt auch über eine Reihe von Verhaltenssystemen, die seine soziale Umwelt zur Interaktion geradezu herausfordern: er lächelt, er lautiert, er stellt Blickkontakt her, er imitiert die Mimik der Erwachsenen, er weint oder brüllt herzzerreißend und lässt sich von der Stimme oder der Berührung beruhigen.
Auch wenn man die sharing-Mechanismen zu den biologisch prädisponierten Basis-Kompetenzen rechnet, sollte man sich deshalb vergegenwärtigen, dass sich aus den basalen Voraussetzungen nicht qua Anreicherung durch Einbettung in ein soziales oder kulturelles Milieu linear und quasi automatisch die psychische Entwicklung zu den höheren psychischen Funktionen vollzieht. Es bedarf des bewussten „Eingriffs“ in den Prozess in Form von sprachlich strukturierten Kommunikations-, Kooperations- und Bewertungshandlungen. Entscheidend ist demnach zweierlei: die Sprach- und Interpretationsgemeinschaft mit der von ihr konstituierten sozialen Praxis als „kultureller Atmosphäre“ und die konkrete mit dem Kind konfrontierte Person mit ihren durch diese Praxis geprägten Einstellungen, Werten und Erfahrungen. Die Sprache und die damit verbundene kulturelle Lebenspraxis sind insofern sowohl Medium und Milieu als auch konkretes Instrumentarium, in dem und durch das sich die höheren psychischen Funktionen entwickeln, und zwar nach unserer Auffassung genau so, wie Vygotskij das skizziert hat: vom Interindividuellen zum Intraindividuellen. Mit anderen Worten: Das Sprechen für den Anderen zur besseren Organisation von sozialen Beziehungen in der Welt wirkt auf das sprechende Subjekt zurück, weil die sensorisch und motorisch verfügbare Welt (und die diesbezügliche Erfahrung) mit einem neuen Medium organisiert werden kann, das anders als das episodische oder prozedurale Gedächtnis einzelne Prozessmerkmale verfügbar, neu kombinierbar und neu konstruierbar macht, für den anderen wie für mich selbst: Bewusstsein als Sprachspiel, als Medium der Lebenspraxis.
Abschlussbemerkung
Unsere zentrale These lautete,
dass diejenigen Prozesse, die Ihren Ursprung in der geteilten Intentionalität
haben bzw. für die die geteilte Intentionalität ein Indikator ist, eine
Weiterentwicklung der aufgezeigten basalen Systeme ermöglichen. Wir haben
gezeigt, dass man der These unter der Prämisse zustimmen kann, dass die Potenz
der geteilten Intentionalität nur in Verbindung mit komplexen, in kulturell
strukturierte Kommunikationsprozesse eingebundenen gemeinsamen Handlungen zum
Tragen kommen kann. Um diese Potenzialität zu entfalten bedarf es beider
Komponenten, oder mit Vygotskijs Worten, beider Entwicklungslinien: Die
basalen, zum großen Teil vermutlich angeborenen kognitiven, emotionalen und
sozialen Wahrnehmungs- und Interaktionsmechanismen – neben den oben ausführlich
referierten kognitiven Systemen müssen hier auch die auf Bindung und soziale
Interaktion hin ausgerichteten sozio-emotionalen Basiskompetenzen genannt
werden – schaffen die Voraussetzungen, dass der Säugling die von seinem
sozialen Umfeld organisierten Unterstützungsaktionen als solche erkennt und
sich mit wachsendem Handlungsinstrumentarium an der Zusammenarbeit beteiligt.
Das „sharing of intentions“, d.h. das Motiv zum gemeinsamen Handeln stellt
gewissermaßen die Schaltstelle dar, an der sich individuelle Voraussetzungen
und die kulturellen Bedeutungen der Lebenspraxis treffen und zur Konstitution
der höheren psychischen Funktionen führen.
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