Montag, 23. Februar 2015

Neurozeption – ein unbewusstes Erkennungssystem für Gefahr und Sicherheit

Neurozeption – ein unbewusstes Erkennungssystem für Gefahr und Sicherheit

Viele Untersuchungen an Neugeborenen zeigen, dass sie in einem beträchtlichen Ausmaß dazu in der Lage sind, die Mutter zu erkennen und mit ihr zu kommunizieren (z.B. die Untersuchungen von Meltzoff, siehe Literatur). Einige Untersuchungen, insbesondere die von Papoušek und Mitarbeitern (Papoušek & Papoušek 1974, 1977, 1981, 1992), haben darüber hinaus deutlich gemacht, dass es oft nicht die Mütter sind, die einen kommunikativen Austausch starten, sondern dass die Initiative für einen interaktiven Austausch oft von den Säuglingen ausgeht. Das verlangt, die Frage nach der vorsprachlichen Kommunikation grundsätzlich zu behandeln und zu beantworten.

Zunächst erscheint es wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass wir, wenn wir von Kommunikation sprechen, zwei eigenständige Kommunikationspartner meinen. Nicht immer ist die Beziehung von Mutter und Kind so betrachtet worden – man hat vielmehr von einer mehr oder weniger starken Symbiose von Mutter und Kind gesprochen, einer mehr oder weniger vollständigen, quasi ursprünglichen, Verschmelzung. Daniel Stern hat diesen Punkt schon 1977 und in seinen späteren Arbeiten immer wieder betont, dass es sich um „die erste Beziehung“ handelt und der Säugling als eigenständiges Wesen betrachtet werden muss, wenn wir eine solche Beziehung untersuchen und verstehen wollen (Stern, 2002). 
Dass es eine solche vorsprachliche Kommunikation gibt, kann als gesichert angenommen werden. Allerdings ist nicht ganz klar, wie vorsprachliche Kommunikation aussehen kann, sagen wir, bei einem 16 Stunden alten oder beim 6 Wochen alten Säugling. Sie kann, das ist von Anfang an klar, nicht auf Sprache basieren und nicht auf irgendetwas, was wir einen Vorläufer von Sprache nennen können. Wir können hier also von nicht-verbaler Kommunikation sprechen, aber nicht von präverbaler Kommunikation, weil das suggeriert, dass der sprachliche Austausch seine logische Fortsetzung wäre. Wenn es nicht sprachliche Kommunikation ist, muss es eine Form des Austauschs sein, die andere Sinne anspricht: das Sehen, das Hören, das Fühlen. In der großen Anzahl von Untersuchungen ist es vor allem das Sehen gewesen, das untersucht worden, die Kommunikation mit den Augen, dem Folgen der Blickrichtung, dem Wiedererkennen bestimmten Schemata, usw. Bei den Untersuchungen von Meltzoff u. a. beispielsweise, bildet das Sehen das herausragende und bevorzugte Untersuchungsgebiet.

Wodurch ist die Situation charakterisiert, in der sich das Kind zusammen mit der Mutter befindet?  Kurz gesagt, es ist eine Situation, in der es vor allem darauf ankommt, dass der Säugling sich sicher und angstfrei fühlen kann, in der es keine Bedrohungen gibt, ausreichend Nahrung und Fürsorge für das körperliche Wohlbefinden.[1] Es stellen sich in unserem Zusammenhang zwei Fragen: Wie wird dieses angstfreie Befinden vom Säugling hergestellt? Und wie kommuniziert die Mutter, dass eine angstfreie Situation vorliegt und wie der Säugling, dass er sich im einem Zustand der Angstfreiheit und des Wohlseins befindet? Diese beiden Fragen signalisieren, dass die Situation keine Situation der Kommunikation um der Kommunikation willen ist – auch wenn das von der Mutter oder anderen Bezugspersonen so intendiert ist. Eine solche Situation ergibt sich erst im Kleinkindalter, und wird z.B. durch deklaratives Hinweisen angezeigt.

Porges hat in seiner Polyvagal-Theorie (Porges, 2011) den Entwurf eines Wahrnehmungssystems vorgestellt, das für die Regulierung der sozialen Prozesse in der oben beschriebenen Situation verantwortlich sein könnte: die Neurozeption[2]. Neurozeption spielt bei der sozial-kommunikativen Prozessen zwischen Säugling und Kind eine große Rolle: erst wenn das neurozeptive System die Information liefert, dass es sich um eine risiko- und daher angstfreie Situation handelt, kann es die drei basalen Abwehrmechanismen blockieren: Kampf, Flucht und Erstarrung. Die Blockierung dieser Abwehrmechanismen macht erst überhaupt den Weg frei für den Aufbau einer sozial-kommunikativen Beziehung zwischen Kind und Mutter. Wir sehen die sozial-kommunikation Beziehung damit sowohl als Bedingung wie als Ergebnis einer angstfreien Beziehung. Wie wir später sehen werden, spielt Oxytocin eine Rolle beim Eingehen einer angstfreien sozialen Beziehung.

Um mit einem anderen Menschen in Kontakt zu treten hat der Säugling wenig Möglichkeiten seine Motorik gezielt einzusetzen: in erster Linie ist es die Muskulatur des Kopfes und des Halses, die hierbei eingesetzt werden kann: durch Blickkontakt oder Abwenden und Lidschluss, durch Modulation der Stimme, durch Modulation des Gesichtsausdrucks und durch Ausrichtung oder Blockade der Muskeln des Mittelohrs.

Die Polyvagal-Theorie hat nach Porges drei basale neuronale Kontrollsysteme identifiziert, die das kortikale und autonome neuronale System jeweils in einem System verbinden. Für die Polyvagal-Theorie ist es wichtig, die evolutionäre Entstehung dieser Kreisläufe jeweils zu berücksichten.

Immobiliserung
-       totstellen, Starre
-       die primitivste Komponente, die die meisten Wirbeltieren besitzen
-       abhängig vom ältesten Ast des Vagus, ohne Myelinscheide

Mobilisierung
-       Kampf – Flucht – Verhalten
-       abhängig von sympathischen Nervensystem reguliert die Stoffwechsel- und Herzleistung

Soziale Kommunikation und Teilhabe
-       Gesichtsausdruck, Vokalisierung, Zuhören
-       Abhängig vom myelinisierten Ast des Vagus


Myelinisierter und nicht-myelinisierter Nervus vagus

Der Nervus vagus besteht nach der Polyvagal-Theorie aus zwei verschiedenen Teilen: Der vordere, ventrale Teil des Vagusnerven ist von schützenden Myelinscheiden umhüllt. Der hintere, dorsale Teil ist frei von Myelin.
    Das myelinisierte System ist das in der Entwicklung des Menschen neuere, reifere System. Es geht vom Nucleus ambiguus, einem Teil des Gehirns aus und liegt weiter vorne (ventral). Der vordere Teil des Vagus ist aktiv bei “Sicherheit” und für das soziale Verhalten (social engagement) mit-verantwortlich.
    Der hintere, nicht-myelinisierte Teil ist der ältere, der ursprüngliche Teil und liegt weiter “hinten” (dorsal). Die hinteren Kerne des Nervus vagus sind mit den Hirnnerven V (Trigeminus), VII (Facialis), IX (glossopharyngeus, unter anderem zuständig für das Mittelohr) und XI (accessorius) verbunden.

Funktion
Peripher / Autonom
Neurochemie
Kortikal-Neuronales System
Soziale Bindung
Regulation der Emotion Neuroprotektion         Herz ¯        
Respirat. Sinus Akt. ­
Myelinisierter Vagus

Oxytocin
Vasopressin
Serotonin
Norepiphedrin

Kortex Hirnstamm
Ventraler Vagus

Mobilisierung
Angst Panik                    Herz ­
Kortison ­
Sympathisch/
Adrenalin
(Hypothalamus/
Hypophyse Achse)
Vasopressin
Corticotropin
Kortison

Kortex
Hirnstamm
Rückenmark

Immobilisierung
Starre Depression Posttrauma                   Herz ¯
Kortison ¯
Nicht-Myelinisierter Vagus

Oxytocin
Opioide
Serotonin

Hirnstamm
Dorsaler Vagus


Schematische Darstellung der drei kortikal-neuronalen Kreisläufe nach Porges (2012)



Literatur

Chaminade, T., Meltzoff, A.N., & Decety, J. (2005). An fMRI study of imitation: Action representation and body schema. Neuropsychologia, 43, 115-127.
Decety, J., Chaminade, T., Grèzes J., & Meltzoff, A.N. (2002). A PET exploration of the neural mechanisms involved in reciprocal imitation. NeuroImage, 15, 265-272.
Jackson, P.L., Meltzoff, A.N., & Decety, J. (2006). An fMRI study of the effect of perspective taking on imitation. NeuroImage, 31, 429-439
Meltzoff, A.N. (2002). Elements of a developmental theory of imitation. In: A.N. Meltzoff & W. Prinz (Eds.), The Imitative Mind (pp. 19-41). Cambridge: Cambridge University Press.
Meltzoff, A.N. (2007). ‘Like me’: A foundation for social cognition. Developmental Science, 10(1), 126-134.
Meltzoff, A. N. (2007). The ‘like me’ framework for recognizing and becoming an intentional agent. Acta Psychologica, 124, 26–43.
Meltzoff, A.N., & Borton, R.W. (1979). Intermodal matching by human neonates. Nature, 282, 403-404.
Meltzoff, A.N., & Brooks, R. (2007). Eyes Wide Shut: The importance of eyes in infant gaze-following and understanding other minds. In R. Flom, K. Lee, & D. Muir (Eds.), Gaze following: Its development and significance (pp. 217-241). Mahwah, NJ: Erlbaum.
Meltzoff, A. N., & Moore, M. K. (1977). Imitation of facial and manual gestures by human neonates. Science, 198, 75–78.
Meltzoff, A.N. and Moore, M.K. (1983). Newborn infants imitate adult facial gestures. Child Development, 54, 702-709.
Meltzoff, A.N., & Moore, M.K. (1994). Imitation, memory, and the representation of persons. Infant Behavior and Development, 17, 83-99.
Papoušek, H., & Papoušek, M. (1974). Mirror image and self-recognition in young infants. Developmental Psychology, 7, 149–157.
Papoušek, H., & Papoušek, M. (1977). Cognitive aspects of preverbal social interaction between human infants and adults. In R. Porter & M. O’Connor (Eds.), Ciba Foundation Symposium 33—Parent-Infant Interaction (pp. 241–269). New York: Wiley.
Papoušek, H., & Papoušek, M. (1981). How human is the human newborn, and what else is to be done. In K. Bloom (Ed.), Prospective Issues in Infancy Research (pp. 137–155). Hillsdale: Erlbaum.
Papoušek, H., & Papoušek, M. (1992). Beyond emotional bonding: The role of preverbal communication in mental growth and health. Infant Mental Health Journal, 13(1), 43–53.
Porges, S. D. (2011). The Polyvagal Theory. New York: Norton. (dt. Die Polyvagal-Theorie. Paderborn: Junfermann, 2010)
Stern, D. N. (2002). The first relationship. With a new introduction. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Toth, K., Munson, J., Meltzoff, A. N. and Dawson, G. (2006). Early Predictors of Communication Development in Young Children with Autism Spectrum Disorder: Joint Attention, Imitation, and Toy Play. Journal of Autism and Developmental Disorders, 36, 993–1005.









[1] Im Gefolge der Untersuchung des Hospitalismus bei Säuglingen und Kleinkindern stellte sich schnell heraus, dass aureichende Nahrung und Hygiene nicht ausreichend sind für eine gesunde Entwicklung der Kinder. René A. Spitz hat hierzu bahnbrechende Forschungsarbeit geleistet – wie er im übrigen auch als Pionier der Untersuchung der Mutter-Kind-Kommunikation angesehen warden kann. Dazu sollte es hier einen gesonderten Beitrag geben.
[2] Natürlich ist „Neurozeption“ eine nicht besonders geglückte Übersetzung von neuroception. Im Deutschen ist Perzeption (auch in der Form der Apperzeption) seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein ungebräuchliches Fremdwort geworden, nachdem es zuvor in den Systemen von Leibniz, Kant und auch von Wilhelm Wundt eine größere Rolle gespielt hat. Deshalb fehlt der unmittelbar einleuchtende Bezug zu „Wahrnehmung.“ Es wäre daran zu denken, den Begriff vielleicht durch „Neurowahrnehmung“ zu ersetzen, „Neurokognition wäre auch ein möglicher Kandidat.

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