Neurozeption –
ein unbewusstes Erkennungssystem für Gefahr und Sicherheit
Viele
Untersuchungen an Neugeborenen zeigen, dass sie in einem beträchtlichen Ausmaß
dazu in der Lage sind, die Mutter zu erkennen und mit ihr zu kommunizieren
(z.B. die Untersuchungen von Meltzoff, siehe Literatur). Einige Untersuchungen,
insbesondere die von Papoušek und
Mitarbeitern (Papoušek & Papoušek 1974, 1977, 1981, 1992), haben darüber
hinaus deutlich gemacht, dass es oft nicht die Mütter sind, die einen
kommunikativen Austausch starten, sondern dass die Initiative für einen
interaktiven Austausch oft von den Säuglingen ausgeht. Das verlangt, die Frage
nach der vorsprachlichen Kommunikation grundsätzlich zu behandeln und zu
beantworten.
Zunächst erscheint es wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass wir,
wenn wir von Kommunikation sprechen, zwei eigenständige Kommunikationspartner meinen.
Nicht immer ist die Beziehung von Mutter und Kind so betrachtet worden – man
hat vielmehr von einer mehr oder weniger starken Symbiose von Mutter und Kind gesprochen, einer mehr oder weniger
vollständigen, quasi ursprünglichen, Verschmelzung. Daniel Stern hat diesen
Punkt schon 1977 und in seinen späteren Arbeiten immer wieder betont, dass es
sich um „die erste Beziehung“ handelt und der Säugling als eigenständiges Wesen
betrachtet werden muss, wenn wir eine solche Beziehung untersuchen und
verstehen wollen (Stern, 2002).
Dass es eine solche vorsprachliche Kommunikation gibt, kann als gesichert
angenommen werden. Allerdings ist nicht ganz klar, wie vorsprachliche
Kommunikation aussehen kann, sagen wir, bei einem 16 Stunden alten oder beim 6
Wochen alten Säugling. Sie kann, das ist von Anfang an klar, nicht auf Sprache
basieren und nicht auf irgendetwas, was wir einen Vorläufer von Sprache nennen
können. Wir können hier also von nicht-verbaler Kommunikation sprechen, aber
nicht von präverbaler Kommunikation, weil das suggeriert, dass der sprachliche
Austausch seine logische Fortsetzung wäre. Wenn es nicht sprachliche
Kommunikation ist, muss es eine Form des Austauschs sein, die andere Sinne
anspricht: das Sehen, das Hören, das Fühlen. In der großen Anzahl von
Untersuchungen ist es vor allem das Sehen gewesen, das untersucht worden, die
Kommunikation mit den Augen, dem Folgen der Blickrichtung, dem Wiedererkennen
bestimmten Schemata, usw. Bei den Untersuchungen von Meltzoff u. a.
beispielsweise, bildet das Sehen das herausragende und bevorzugte
Untersuchungsgebiet.
Wodurch ist die Situation
charakterisiert, in der sich das Kind zusammen mit der Mutter befindet? Kurz gesagt, es ist eine Situation, in der es
vor allem darauf ankommt, dass der Säugling sich sicher und angstfrei fühlen
kann, in der es keine Bedrohungen gibt, ausreichend Nahrung und Fürsorge für
das körperliche Wohlbefinden.[1]
Es stellen sich in unserem Zusammenhang zwei Fragen: Wie wird dieses angstfreie
Befinden vom Säugling hergestellt? Und wie kommuniziert die Mutter, dass eine
angstfreie Situation vorliegt und wie der Säugling, dass er sich im einem
Zustand der Angstfreiheit und des Wohlseins befindet? Diese beiden Fragen
signalisieren, dass die Situation keine Situation der Kommunikation um der
Kommunikation willen ist – auch wenn das von der Mutter oder anderen
Bezugspersonen so intendiert ist. Eine solche Situation ergibt sich erst im
Kleinkindalter, und wird z.B. durch deklaratives Hinweisen angezeigt.
Porges hat in seiner Polyvagal-Theorie (Porges, 2011) den Entwurf eines
Wahrnehmungssystems vorgestellt, das für die Regulierung der sozialen Prozesse
in der oben beschriebenen Situation verantwortlich sein könnte: die Neurozeption[2].
Neurozeption spielt bei der sozial-kommunikativen Prozessen zwischen Säugling
und Kind eine große Rolle: erst wenn das neurozeptive System die Information
liefert, dass es sich um eine risiko- und daher angstfreie Situation handelt,
kann es die drei basalen Abwehrmechanismen blockieren: Kampf, Flucht und
Erstarrung. Die Blockierung dieser Abwehrmechanismen macht erst überhaupt den
Weg frei für den Aufbau einer sozial-kommunikativen Beziehung zwischen Kind und
Mutter. Wir sehen die sozial-kommunikation Beziehung damit sowohl als Bedingung
wie als Ergebnis einer angstfreien Beziehung. Wie wir später sehen werden,
spielt Oxytocin eine Rolle beim Eingehen einer angstfreien sozialen Beziehung.
Um mit einem anderen Menschen in Kontakt zu treten hat der Säugling wenig
Möglichkeiten seine Motorik gezielt einzusetzen: in erster Linie ist es die
Muskulatur des Kopfes und des Halses, die hierbei eingesetzt werden kann: durch
Blickkontakt oder Abwenden und Lidschluss, durch Modulation der Stimme, durch
Modulation des Gesichtsausdrucks und durch Ausrichtung oder Blockade der
Muskeln des Mittelohrs.
Die Polyvagal-Theorie hat nach Porges drei basale neuronale
Kontrollsysteme identifiziert, die das kortikale und autonome neuronale System
jeweils in einem System verbinden. Für die Polyvagal-Theorie ist es wichtig,
die evolutionäre Entstehung dieser Kreisläufe jeweils zu berücksichten.
Immobiliserung
-
totstellen, Starre
-
die primitivste Komponente, die die meisten
Wirbeltieren besitzen
-
abhängig vom ältesten Ast des Vagus, ohne
Myelinscheide
Mobilisierung
-
Kampf – Flucht – Verhalten
-
abhängig von sympathischen Nervensystem reguliert
die Stoffwechsel- und Herzleistung
Soziale
Kommunikation und Teilhabe
-
Gesichtsausdruck, Vokalisierung, Zuhören
-
Abhängig vom myelinisierten Ast des Vagus
Myelinisierter
und nicht-myelinisierter Nervus vagus
Der Nervus
vagus besteht nach der Polyvagal-Theorie aus zwei verschiedenen Teilen: Der
vordere, ventrale Teil des Vagusnerven ist von schützenden Myelinscheiden
umhüllt. Der hintere, dorsale Teil ist frei von Myelin.
Das myelinisierte System ist das in der
Entwicklung des Menschen neuere, reifere System. Es geht vom Nucleus ambiguus,
einem Teil des Gehirns aus und liegt weiter vorne (ventral). Der vordere Teil
des Vagus ist aktiv bei “Sicherheit” und für das soziale Verhalten (social
engagement) mit-verantwortlich.
Der hintere, nicht-myelinisierte Teil ist
der ältere, der ursprüngliche Teil und liegt weiter “hinten” (dorsal). Die
hinteren Kerne des Nervus vagus sind mit den Hirnnerven V (Trigeminus), VII
(Facialis), IX (glossopharyngeus, unter anderem zuständig für das Mittelohr)
und XI (accessorius) verbunden.
Funktion
|
Peripher / Autonom
|
Neurochemie
|
Kortikal-Neuronales System
|
Soziale Bindung
Regulation der
Emotion Neuroprotektion Herz ¯
Respirat. Sinus
Akt.
|
Myelinisierter
Vagus
|
Oxytocin
Vasopressin
Serotonin
Norepiphedrin
|
Kortex
Hirnstamm
Ventraler Vagus
|
Mobilisierung
Angst Panik Herz
Kortison
|
Sympathisch/
Adrenalin
(Hypothalamus/
Hypophyse
Achse)
|
Vasopressin
Corticotropin
Kortison
|
Kortex
Hirnstamm
Rückenmark
|
Immobilisierung
Starre
Depression Posttrauma
Herz ¯
Kortison ¯
|
Nicht-Myelinisierter
Vagus
|
Oxytocin
Opioide
Serotonin
|
Hirnstamm
Dorsaler Vagus
|
Schematische
Darstellung der drei kortikal-neuronalen Kreisläufe nach Porges (2012)
Literatur
Chaminade, T., Meltzoff, A.N., & Decety, J. (2005). An fMRI study of
imitation: Action representation and body schema. Neuropsychologia, 43, 115-127.
Decety, J., Chaminade, T., Grèzes J., & Meltzoff, A.N. (2002). A PET
exploration of the neural mechanisms involved in reciprocal imitation. NeuroImage, 15, 265-272.
Jackson, P.L., Meltzoff, A.N., & Decety, J. (2006). An fMRI study of
the effect of perspective taking on imitation. NeuroImage, 31, 429-439
Meltzoff, A.N. (2002). Elements of a developmental theory of imitation.
In: A.N. Meltzoff & W. Prinz (Eds.), The Imitative Mind (pp. 19-41).
Cambridge: Cambridge University Press.
Meltzoff, A.N. (2007). ‘Like me’: A foundation for social cognition. Developmental
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Meltzoff, A. N. (2007). The ‘like me’ framework for recognizing and
becoming an intentional agent. Acta
Psychologica, 124, 26–43.
Meltzoff, A.N., & Borton, R.W. (1979). Intermodal matching by human
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Meltzoff, A.N., & Brooks, R. (2007). Eyes Wide Shut: The importance
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Lee, & D. Muir (Eds.), Gaze
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Erlbaum.
Meltzoff, A. N., & Moore, M. K. (1977). Imitation of facial and
manual gestures by human neonates. Science,
198, 75–78.
Meltzoff, A.N. and Moore, M.K. (1983). Newborn infants imitate adult
facial gestures. Child Development,
54, 702-709.
Meltzoff, A.N., & Moore, M.K. (1994). Imitation, memory, and the
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Papoušek, H., & Papoušek, M. (1974).
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Papoušek, H., & Papoušek, M. (1977).
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adults. In R. Porter & M. O’Connor (Eds.), Ciba Foundation Symposium 33—Parent-Infant Interaction (pp.
241–269). New York: Wiley.
Papoušek, H., & Papoušek, M. (1981). How
human is the human newborn, and what else is to be done. In K. Bloom (Ed.), Prospective Issues in Infancy Research
(pp. 137–155). Hillsdale: Erlbaum.
Papoušek, H., &
Papoušek, M. (1992). Beyond emotional bonding: The role of preverbal
communication in mental growth and health. Infant
Mental Health Journal, 13(1),
43–53.
Porges, S. D. (2011). The Polyvagal Theory. New York: Norton. (dt.
Die Polyvagal-Theorie. Paderborn:
Junfermann, 2010)
Stern, D. N. (2002). The first
relationship. With a new introduction. Cambridge, MA: Harvard University
Press.
Toth, K., Munson, J., Meltzoff, A. N. and Dawson, G. (2006). Early
Predictors of Communication Development in Young Children with Autism Spectrum
Disorder: Joint Attention, Imitation, and Toy Play. Journal of Autism and Developmental Disorders, 36, 993–1005.
[1] Im Gefolge der Untersuchung des Hospitalismus bei Säuglingen und
Kleinkindern stellte sich schnell heraus, dass aureichende Nahrung und Hygiene
nicht ausreichend sind für eine gesunde Entwicklung der Kinder. René A. Spitz
hat hierzu bahnbrechende Forschungsarbeit geleistet – wie er im übrigen auch
als Pionier der Untersuchung der Mutter-Kind-Kommunikation angesehen warden
kann. Dazu sollte es hier einen gesonderten Beitrag geben.
[2] Natürlich ist
„Neurozeption“ eine nicht besonders geglückte Übersetzung von neuroception. Im Deutschen ist
Perzeption (auch in der Form der Apperzeption) seit Mitte des 20. Jahrhunderts
ein ungebräuchliches Fremdwort geworden, nachdem es zuvor in den Systemen von
Leibniz, Kant und auch von Wilhelm Wundt eine größere Rolle gespielt hat.
Deshalb fehlt der unmittelbar einleuchtende Bezug zu „Wahrnehmung.“ Es wäre
daran zu denken, den Begriff vielleicht durch „Neurowahrnehmung“ zu ersetzen,
„Neurokognition wäre auch ein möglicher Kandidat.
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