Freitag, 13. Februar 2015

Zusammenfassung unserer aktuellen Diskussion von Martin


Ausgangpunkt: Multivagaltheorie mit auf- und absteigenden Informationen über soziale Erfahrungen (bzw. im Kontext von sozialen Erfahrungen), die durch ein Drittes, Extravagales – vermutlich die Emotionen, z.B. Angst – organisiert werden. Vermittelt über dieses Dritte – eben im Einzelfall Angst – werden somit in gewisser Weise auch soziale Erfahrungen auf eine basale neurophysiologische Ebene gelenkt, wie dies in anderer Form auch von der Bindungstheorie in Bezug auf das mütterliche oder pflegerische Verhalten postuliert wird und wie sich auch komplexere kulturelle Muster sozial im Verhalten niederschlagen: Etwa Erziehungsphilosophien, religiöse Orientierungen, Höflichkeitspraktiken und andere körperliche Sitten und Gebräuche (Sauberkeitsvorschriften, Babytragetücher etc.).
Daraus könnten sich Fragen und Gliederungsvorschläge für unseren Beitrag Ohrbeck 2015 ergeben, hier in ungeordneter Reihenfolge aufgelistet: 

-       Was halten Bindungstheoretiker und andere Säuglingsforscher von Porges Polyvagaltheorie und warum wird sie so wenig zitiert? Z.B der Trevarthen-Aufsatz in dem Band der Dahlem-Konferenz 2003 (Publikation 2005), in dem er schreibt, dass es nicht nur auf die secure base ankommt, sondern auf die Motive, mit den Babys zu interagieren (Spaß und Spiel).

-       Was wäre denn das Fazit unserer bisherigen Texte zu den zwei Linien? Die zwei Linien sind eine zusammengehörende Angelegenheit, eine Ganzheit, wie bei ähnlichen Dichotomien: Natur-Kultur, biologisch-sozial, innen-außen, sie führen nicht weiter.

-       Wo hat Vygotskij Recht, wo nicht: Er hat Recht, wenn er sagt, dass das Gesellschaftliche dem Individuellen vorausgeht, er hat nicht Recht, wenn er die Erwachsenen als Quelle der Entwicklung des Kindes sieht. Vom Sozialen zum Individuellen ist ein falscher Blickwinkel, wenn damit gemeint ist, dass der individuelle Handlungsakt des Kindes sozial geformt oder überformt würde, wie er dies z.B. für die Zeigegeste beschreibt. Auch die Rede vom Transfer der Fremdkontrolle zur Selbstkontrolle ist problematisch. Allenfalls geht es hier um die explizite Rede zu sich selbst, die dann interiorisiert wird, so dass die externe Selbstkontrolle zur internen Selbstkontrolle wird (? Zusatz von mir).
-       Die Aufmerksamkeitskategorie verschmelzt diese beiden Linien zu einer Ganzheit. Bei Tomasello ist die Kooperativität als Naturkonstante schon evolutionär vorhanden und die Kultur ist von Anfang an Bestandteil der menschlichen Natur. Hier stimmen V. und Tomasello vermutlich überein, nur dass es T. deutlicher formuliert.

-       Die Polyvagaltheorie packt hier noch ein basales Gesundheitsproblem hinein: Das Gedeihen oder die Gedeihstörungen sind Anzeichen - oder wenn Du so willst Falk: Zeichen von traumatischen Erfahrungen in diesen frühen Interaktionen und ihrem kulturell organisierten Gelingen. Das müsste in Bezug auf die Polyvagaltheorie genauer ausgeführt werden, damit man die Schnittstellen besser beschreiben kann und man sich nicht dem Vorwurf von Trevarthen aussetzen muss (it’s not only the secure base).

-       Wie also funktioniert das, was Porges als Neuroreception bezeichnet, genau auf der Ebene des autonomen Nervensystems und der daran angeschlossenen „externen“ Rezeptoren (Gesichtsmuskulatur, Hörmuskulatur etc.) in Verbindung mit der Herzfrequenz, mit den Stresshormonen etc. Wie ist das Sehen der Muskulaturbewegungen des Anderen da einbezogen. 

-       Wie wirkt sich demgegenüber Wohlgefühl – bei sich selbst wahrgenommen oder beim anderen registriert – auf die Wahrnehmung und das Verhalten aus? Bedarf es vielleicht gar keiner differenzierten (im Sinne von inhaltlichen, gesellschaftlich-historisch und kulturell definierten Mustern) Zeichen­systeme? Die Zeichen und Anzeichen sind eigentlich relativ banal: fühlt sich das Baby wohl oder nicht, muss es sich anstrengen, um die Balance hinzubekommen oder nicht. Hier sind die Ergebnisse von Als & Brazelton über die Strategien des Babys zur Selbstberuhigung und Rekapitulation der körperliche Balance sicher außerordentlich aufschlussreich, insbesondere im Hinblick auf die Polyvagaltheorie (siehe der Film von Wolfgang Thiel und Bärbel Derksen).

-       Allerdings gibt es eine kulturelle Normierung des Wohlgefühls als gesellschaftlicher Prozess, Beispiel Wickelbrett, Babywippe, Tragetuch etc. mit einem hohen physiologischen oder körperlichen Anpassungsdruck. Kinder brauchen Konsistenz und Eltern müssen sie herstellen.

-       Wie organisiert sich Konsistenz in unserer Wahnsinnswelt?

-       Und schließlich und endlich: das Geschlechterverhältnis als kulturelle, subkulturelle und – aufgemerkt! – physiologische Größe oder Variable. Siehe dazu SZ vom 14.10.2014: über die geschlechtsspezifischen Reaktionen des Herzens von Männern und Frauen auf Stress, Blutdruck, Infarktprobleme etc. Die Polyvagaltheorie lässt schön grüßen, dachte ich mir. Dass Männer Stress anders empfinden, verarbeiten, darunter leiden, etc. weiß man ja, kennt man ja, leidet man ja drunter.

3 Kommentare:

Falk Seeger hat gesagt…

Porges selbst würde dieser Einschätzung von Trevarthen garnicht widersprechen. Im Gegenteil, er betont immer wieder, dass die polyvagale Regulation im Sinne der Einschätzung von Bedrohung und Sicherheit nicht einmal annähernd das komplette Bild widergibt. Aber zu Recht betont er, dass Spaß und Spiel nicht möglich sind, wenn das Kind sich bedroht fühlr und deshalb unsicher und zurückgezogen ist.

Unknown hat gesagt…

Postversuch: 27.04.15

Zur Frage von Falks Neurozeptionstext: Wie wird dieses angstfreie Befinden vom Säugling hergestellt? Und wie kommuniziert die Mutter, dass eine angstfreie Situation vorliegt und wie der Säugling, dass er sich im einem Zustand der Angstfreiheit und des Wohlseins befindet? Diese beiden Fragen signalisieren, dass die Situation keine Situation der Kommunikation um der Kommunikation willen ist – auch wenn das von der Mutter oder anderen Bezugspersonen so intendiert ist. Eine solche Situation ergibt sich erst im Kleinkindalter, und wird z.B. durch deklaratives Hinweisen angezeigt.


Die vorsprachliche Kommunikationsproblematik, die Falk für zentral hält, hat mehrere Perspektiven:
- Die erste nenne ich mal individuelle nonverbale Perspektive. Bei ihr geht es um die Frage, welche Mittel (nonverbale Zeichen- oder Signalsysteme im Sinne der Semiotik) die Kommunikanten benutzen und welche anderen, quasi außersemiotischen Kommunikationskanäle gibt es noch, die von den Kommunikationspartnern produziert und wahrgenommen werden – etwa Augenbewegungen, Blickrichtungen, Gerüche, Bewegungsmuster u.Ä., was von semiotischen Modellen bisher nicht erfasst wurde oder werden soll;
- die zweite Dimension nenne ich die duale oder interaktive Perspektive, in der es um Begleiterscheinungen der sprachlichen Kommunikation geht. Damit sind natürlich die sogenannten paralinguistischen Merkmale (Lautstärke, Tonhöhe, Pausen, begleitende Mimik etc.) geht. Unter Berücksichtigung der ersten Perspektive kommen hier jedoch ganz offensichtlich Aspekte hinzu, die aus dem klassischen Repertoire der paralinguistischen Merkmale herausfallen, die aber ganz offensichtlich in der Interaktion – insbesondere in der Interaktion zwischen Mutter und Kind – eine zentrale Rolle spielen. Damit sich die Begleiterscheinungen und Merkmale des mütterlichen (oder väterlichen) Sprechens gemeint, die beim Gegenüber (hier beim Baby) emotionale Reaktionen hervorrufen bzw. emotionale Befindlichkeiten erzeugen oder beeinflussen. Obwohl sie die verbale Kommunikation konstitutiv begleiten, wird diese Dimension erst sichtbar, wenn man die Auswirkungen der ersten Perspektive beim Kind erfassen kann.
- Die dritte Perspektive ist eine Mischform der beiden ersten, bezieht sich aber primär auf die nonverbalen Aspekte, die die Inhalte der Kommunikation beim Sprecher spielen, weshalb ich sie die motivationale Dimension nennen möchte. Damit ist die emotionale Beziehung zum Thema gemeint, das Gegenstand der verbalen Kommunikation ist, das aber als sozio-emotionales den Sprechern nicht bewusst oder nicht in seinen gesamten persönlichkeitsrelevanten und körperlichen Auswirkungen voll bewusst ist (im Sinne eines reflexiven Bewusstseinsbegriffs). Hier denke ich z. B. an die emotionale Bedeutung, die das Baby oder sein Wohlbefinden oder seine Reaktion für die Mutter hat. Ebenso gehört dazu die Einschätzung der Bedeutsamkeit des eigenen Tuns für die Mutter selbst („bin ich eine gute Mutter, mache ich es alles richtig, verstoße ich nicht gegen bestimmte Regeln oder Gebote“ etc. ).

Falk Seeger hat gesagt…

Wenn wir uns irgendwie auf das "Erleben" als die UoA einigen können, was ja nicht ganz ausgeschlossen erscheint, dann wären die drei Perspektiven der Kommunikationsproblematik, die Martin skizziert, als drei verschiedene Formen des Erlebens in je spezifischen Situationen zu verstehen.