Ausgangpunkt: Multivagaltheorie mit auf- und absteigenden
Informationen über soziale Erfahrungen (bzw. im Kontext von sozialen Erfahrungen),
die durch ein Drittes, Extravagales – vermutlich die Emotionen, z.B. Angst –
organisiert werden. Vermittelt über dieses Dritte – eben im Einzelfall Angst –
werden somit in gewisser Weise auch soziale Erfahrungen auf eine basale
neurophysiologische Ebene gelenkt, wie dies in anderer Form auch von der
Bindungstheorie in Bezug auf das mütterliche oder pflegerische Verhalten
postuliert wird und wie sich auch komplexere kulturelle Muster sozial im
Verhalten niederschlagen: Etwa Erziehungsphilosophien, religiöse
Orientierungen, Höflichkeitspraktiken und andere körperliche Sitten und
Gebräuche (Sauberkeitsvorschriften, Babytragetücher etc.).
Daraus könnten sich Fragen und Gliederungsvorschläge für
unseren Beitrag Ohrbeck 2015 ergeben, hier in ungeordneter Reihenfolge
aufgelistet:
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Was halten Bindungstheoretiker und andere
Säuglingsforscher von Porges Polyvagaltheorie und warum wird sie so wenig
zitiert? Z.B der Trevarthen-Aufsatz in dem Band der Dahlem-Konferenz 2003
(Publikation 2005), in dem er schreibt, dass es nicht nur auf die secure base
ankommt, sondern auf die Motive, mit den Babys zu interagieren (Spaß und Spiel).
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Was wäre denn das Fazit unserer bisherigen Texte
zu den zwei Linien? Die zwei Linien sind eine zusammengehörende Angelegenheit,
eine Ganzheit, wie bei ähnlichen Dichotomien: Natur-Kultur, biologisch-sozial,
innen-außen, sie führen nicht weiter.
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Wo hat Vygotskij Recht, wo nicht: Er hat Recht,
wenn er sagt, dass das Gesellschaftliche dem Individuellen vorausgeht, er hat
nicht Recht, wenn er die Erwachsenen als Quelle der Entwicklung des Kindes
sieht. Vom Sozialen zum Individuellen ist ein falscher Blickwinkel, wenn damit
gemeint ist, dass der individuelle Handlungsakt des Kindes sozial geformt oder
überformt würde, wie er dies z.B. für die Zeigegeste beschreibt. Auch die Rede
vom Transfer der Fremdkontrolle zur Selbstkontrolle ist problematisch.
Allenfalls geht es hier um die explizite Rede zu sich selbst, die dann
interiorisiert wird, so dass die externe Selbstkontrolle zur internen Selbstkontrolle
wird (? Zusatz von mir).
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Die Aufmerksamkeitskategorie verschmelzt diese
beiden Linien zu einer Ganzheit. Bei Tomasello ist die Kooperativität als
Naturkonstante schon evolutionär vorhanden und die Kultur ist von Anfang an
Bestandteil der menschlichen Natur. Hier stimmen V. und Tomasello vermutlich
überein, nur dass es T. deutlicher formuliert.
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Die Polyvagaltheorie packt hier noch ein basales
Gesundheitsproblem hinein: Das Gedeihen oder die Gedeihstörungen sind Anzeichen
- oder wenn Du so willst Falk: Zeichen von traumatischen Erfahrungen in diesen
frühen Interaktionen und ihrem kulturell organisierten Gelingen. Das müsste in
Bezug auf die Polyvagaltheorie genauer ausgeführt werden, damit man die
Schnittstellen besser beschreiben kann und man sich nicht dem Vorwurf von
Trevarthen aussetzen muss (it’s not only the secure base).
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Wie also funktioniert das, was Porges als
Neuroreception bezeichnet, genau auf der Ebene des autonomen Nervensystems und
der daran angeschlossenen „externen“ Rezeptoren (Gesichtsmuskulatur,
Hörmuskulatur etc.) in Verbindung mit der Herzfrequenz, mit den Stresshormonen
etc. Wie ist das Sehen der Muskulaturbewegungen des Anderen da einbezogen.
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Wie wirkt sich demgegenüber Wohlgefühl – bei
sich selbst wahrgenommen oder beim anderen registriert – auf die Wahrnehmung
und das Verhalten aus? Bedarf es vielleicht gar keiner differenzierten (im
Sinne von inhaltlichen, gesellschaftlich-historisch und kulturell definierten
Mustern) Zeichensysteme? Die Zeichen und Anzeichen sind eigentlich relativ
banal: fühlt sich das Baby wohl oder nicht, muss es sich anstrengen, um die
Balance hinzubekommen oder nicht. Hier sind die Ergebnisse von Als &
Brazelton über die Strategien des Babys zur Selbstberuhigung und Rekapitulation
der körperliche Balance sicher außerordentlich aufschlussreich, insbesondere im
Hinblick auf die Polyvagaltheorie (siehe der Film von Wolfgang Thiel und Bärbel
Derksen).
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Allerdings gibt es eine kulturelle Normierung
des Wohlgefühls als gesellschaftlicher Prozess, Beispiel Wickelbrett,
Babywippe, Tragetuch etc. mit einem hohen physiologischen oder körperlichen
Anpassungsdruck. Kinder brauchen Konsistenz und Eltern müssen sie herstellen.
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Wie organisiert sich Konsistenz in unserer
Wahnsinnswelt?
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Und schließlich und endlich: das Geschlechterverhältnis
als kulturelle, subkulturelle und – aufgemerkt! – physiologische Größe oder
Variable. Siehe dazu SZ vom 14.10.2014: über die geschlechtsspezifischen
Reaktionen des Herzens von Männern und Frauen auf Stress, Blutdruck,
Infarktprobleme etc. Die Polyvagaltheorie lässt schön grüßen, dachte ich mir.
Dass Männer Stress anders empfinden, verarbeiten, darunter leiden, etc. weiß
man ja, kennt man ja, leidet man ja drunter.
3 Kommentare:
Porges selbst würde dieser Einschätzung von Trevarthen garnicht widersprechen. Im Gegenteil, er betont immer wieder, dass die polyvagale Regulation im Sinne der Einschätzung von Bedrohung und Sicherheit nicht einmal annähernd das komplette Bild widergibt. Aber zu Recht betont er, dass Spaß und Spiel nicht möglich sind, wenn das Kind sich bedroht fühlr und deshalb unsicher und zurückgezogen ist.
Postversuch: 27.04.15
Zur Frage von Falks Neurozeptionstext: Wie wird dieses angstfreie Befinden vom Säugling hergestellt? Und wie kommuniziert die Mutter, dass eine angstfreie Situation vorliegt und wie der Säugling, dass er sich im einem Zustand der Angstfreiheit und des Wohlseins befindet? Diese beiden Fragen signalisieren, dass die Situation keine Situation der Kommunikation um der Kommunikation willen ist – auch wenn das von der Mutter oder anderen Bezugspersonen so intendiert ist. Eine solche Situation ergibt sich erst im Kleinkindalter, und wird z.B. durch deklaratives Hinweisen angezeigt.
Die vorsprachliche Kommunikationsproblematik, die Falk für zentral hält, hat mehrere Perspektiven:
- Die erste nenne ich mal individuelle nonverbale Perspektive. Bei ihr geht es um die Frage, welche Mittel (nonverbale Zeichen- oder Signalsysteme im Sinne der Semiotik) die Kommunikanten benutzen und welche anderen, quasi außersemiotischen Kommunikationskanäle gibt es noch, die von den Kommunikationspartnern produziert und wahrgenommen werden – etwa Augenbewegungen, Blickrichtungen, Gerüche, Bewegungsmuster u.Ä., was von semiotischen Modellen bisher nicht erfasst wurde oder werden soll;
- die zweite Dimension nenne ich die duale oder interaktive Perspektive, in der es um Begleiterscheinungen der sprachlichen Kommunikation geht. Damit sind natürlich die sogenannten paralinguistischen Merkmale (Lautstärke, Tonhöhe, Pausen, begleitende Mimik etc.) geht. Unter Berücksichtigung der ersten Perspektive kommen hier jedoch ganz offensichtlich Aspekte hinzu, die aus dem klassischen Repertoire der paralinguistischen Merkmale herausfallen, die aber ganz offensichtlich in der Interaktion – insbesondere in der Interaktion zwischen Mutter und Kind – eine zentrale Rolle spielen. Damit sich die Begleiterscheinungen und Merkmale des mütterlichen (oder väterlichen) Sprechens gemeint, die beim Gegenüber (hier beim Baby) emotionale Reaktionen hervorrufen bzw. emotionale Befindlichkeiten erzeugen oder beeinflussen. Obwohl sie die verbale Kommunikation konstitutiv begleiten, wird diese Dimension erst sichtbar, wenn man die Auswirkungen der ersten Perspektive beim Kind erfassen kann.
- Die dritte Perspektive ist eine Mischform der beiden ersten, bezieht sich aber primär auf die nonverbalen Aspekte, die die Inhalte der Kommunikation beim Sprecher spielen, weshalb ich sie die motivationale Dimension nennen möchte. Damit ist die emotionale Beziehung zum Thema gemeint, das Gegenstand der verbalen Kommunikation ist, das aber als sozio-emotionales den Sprechern nicht bewusst oder nicht in seinen gesamten persönlichkeitsrelevanten und körperlichen Auswirkungen voll bewusst ist (im Sinne eines reflexiven Bewusstseinsbegriffs). Hier denke ich z. B. an die emotionale Bedeutung, die das Baby oder sein Wohlbefinden oder seine Reaktion für die Mutter hat. Ebenso gehört dazu die Einschätzung der Bedeutsamkeit des eigenen Tuns für die Mutter selbst („bin ich eine gute Mutter, mache ich es alles richtig, verstoße ich nicht gegen bestimmte Regeln oder Gebote“ etc. ).
Wenn wir uns irgendwie auf das "Erleben" als die UoA einigen können, was ja nicht ganz ausgeschlossen erscheint, dann wären die drei Perspektiven der Kommunikationsproblematik, die Martin skizziert, als drei verschiedene Formen des Erlebens in je spezifischen Situationen zu verstehen.
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